Erdrutsch in Nachterstedt: 15 Jahre nach der Katastrophe

    15 Jahre Erdrutsch Nachterstedt:Binnen weniger Minuten brach ihre Zukunft ein

    von Annette Pöschel
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    Am 18. Juli 2009 tut sich plötzlich die Erde auf. Anderthalb Häuser werden in die Tiefe gerissen. Ohne Vorwarnung. Drei Menschen sterben bei dem Unglück.

    abruchstelle am concordia-see in nachterstedt
    Vor 15 Jahren rutscht ein Landstreifen in den Concordiasee bei Nachterstedt. Drei Personen sterben, rund 40 werden obdachlos. Die Ursache ist bis heute ungeklärt.15.07.2024 | 10:28 min
    Es ist früh am Morgen als Hans und Monika Fraust vom Schreien ihrer Nachbarin geweckt werden. "Die Häuser brechen weg, die Häuser brechen weg!" Schlaftrunken blicken sie aus ihrem Fenster und sehen, wie die großen Pappeln vor ihrem Haus absacken. Sie rennen hinaus und sind schockiert. Das Nachbarhaus - einfach verschwunden.

    Dann stehst Du da und kannst den See sehen, was ist denn da passiert?

    Hans Fraust, Nachbar

    Erdrutsch in Nachterstedt
    Teile eines eingestuerzten Hauses und einer Strasse sind am Samstag, 18. Juli 2009, bei Nachterstedt, Sachsen-Anhalt, am Rande eines gefluteten Braunkohletagebaus zu sehen. Bei einem Erdrutsch ist am Samstagmorgen ein Einfamilienhaus in die Tiefe gerissen worden. Drei Menschen werden vermisst. 64 Personen wurden evakuiert. (AP Photo/Jens Meyer) --- **AERIAL VIEW** The ruin of a residential house and a destroyed street are seen in Nachterstedt, central Germany, on Saturday, July 18, 2009. Three residents were missing in Germany after their lakeside home and another building suddenly collapsed early Saturday morning into the water. A 350-metre stretch of shoreline gave way next to an old open-cast coalmine converted to a lake in the small town of Nachterstedt, 170 kilometres south-west of Berlin. (AP Photo/Jens Meyer)
    Quelle: AP

    Seit 15 Jahren erzählt Hans Fraust seine Geschichte und ringt noch immer nach Worten, was damals in ihm vorging. Unglaube? Angst? Hektik? Schnell das Nötigste greifen. Und in Sicherheit bringen. Dann stehen auch schon Einsatzkräfte vor der Tür - sie evakuieren mehr als 40 Nachbarn.
    Rettungskräfte in Ruinen
    Heftige Unwetter sorgen in der Schweiz für Erdrutsche und Überschwemmungen. Die Bewohner leiden schwer unter den entstandenen Folgen. Mehrere Menschen werden vermisst. 24.06.2024 | 2:19 min
    Nachterstedt liegt am Rande eines stillgelegten Braunkohle-Tagebaus. Lange Jahre hatten sich Bagger ins Erdreich gefressen. 1990 war Schluss. Aus der Mondlandschaft sollte ein freundliches Naherholungsgebiet entstehen. Das riesige Restloch wurde langsam geflutet, 2002 der Concordiasee eröffnet.
    Die umliegenden Gemeinden freuen sich auf Wassersport und Fahrradtourismus. Sieben Jahre später finden die voller Zuversicht geschmiedeten Pläne eine jähes Ende. Vor allem aber das persönliche Glück von mehreren Familien.
    Hochwasser in Baden-Württemberg - Meckenbeuren
    In Baden-Württemberg ist das Wasser an den meisten Stellen abgeflossen - für viele wird das Ausmaß der Katastrophe erst jetzt richtig sichtbar. Anna Gürth und Anita Theis haben das große Aufräumen am Bodensee begleitet. 04.06.2024 | 1:57 min

    Das Unglück reißt drei Menschen in den Tod

    Als am 18. Juli 2009 ein hunderte Meter langer Uferstreifen abbricht, rutschen unvorstellbare viereinhalb Millionen Kubikmeter Erde in die Tiefe. Sie reißen zwei Häuser mit sich - und drei Menschen in den Tod. Einer von ihnen ist Thomas Holzapfel. Seine Frau Imke hat in der Nacht Schicht im Krankenhaus. Als sie am Unglücksort ankommt, ist er schon weiträumig abgesperrt.

    Es war ein großes Gewusel von Helfern und Presse. In der Zeit, in der ich mich orientiert habe, war mir aus unerfindlichen Gründen klar, dass mein Mann tot ist.

    Imke Wiesenberg

    Erdrutsch in Nachterstedt
    Teile eines eingestuerzten Hauses und einer Strasse sind am Samstag, 18. Juli 2009, bei Nachterstedt, Sachsen-Anhalt, am Rande eines gefluteten Braunkohletagebaus zu sehen. Bei einem Erdrutsch ist am Samstagmorgen ein Einfamilienhaus in die Tiefe gerissen worden. Drei Menschen werden vermisst. 64 Personen wurden evakuiert. (AP Photo/Jens Meyer) --- **AERIAL VIEW**The ruin of a residential house and a destroyed street is seen in Nachterstedt, central Germany, on Saturday, July 18, 2009. Three residents were missing in Germany after their lakeside home and another building suddenly collapsed early Saturday morning into the water. A 350-metre stretch of shoreline gave way next to an old open-cast coal mine converted to a lake in the small town of Nachterstedt, 170 kilometres south-west of Berlin. (AP Photo/Jens Meyer)
    Quelle: AP

    Die Rettungskräfte, bald unterstützt von der Bundeswehr, suchen drei Tage nach Wegen, die Verschütteten zu bergen. Ohne Erfolg.
    In dieser Zeit rücken die Nachterstedter zusammen. Schnell spenden sie Kleidung, Haushaltsgeräte und Geld. Notunterkünfte werden zur Verfügung gestellt. Diese Solidarität - auch aus dem gesamten Bundesgebiet - wird noch lange andauern.
    Was auch bleibt, ist die Angst vor weiteren Abbrüchen. So erhalten die Evakuierten bald die niederschmetternde Nachricht, dass das Areal zu unsicher ist, ihre Siedlung Sperrgebiet bleiben wird. Nur noch ein einziges Mal können sie kurz in ihre Häuser, um Fotos zu retten oder wichtige Dokumente. Im Januar 2013 wird alles abgerissen.
    Der neue Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer (SPD), spricht nach dem Zentralen Gedenkgottesdienst zum dritten Jahrestag der Flut im Ahrtal vor der zerstörten Maria-Hilf-Brücke
    Bei der Flutkatastrophe kamen 2021 184 Menschen ums Leben. Bei einer Gedenkveranstaltung war auch der neue Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer, anwesend.14.07.2024 | 0:24 min

    Vier Jahre warten auf’s Gutachten

    Im Juli 2013 stellen zwei Gutachter-Teams ihre Ergebnisse zur Unglücksursache vor, mit komplizierten Grafiken und vielen Fachbegriffen. Stark vereinfacht, kann man sagen: Unter der Kohleschicht verlief eine Grundwasserader mit deutlich höherem Druck als in den darüberliegenden Schichten.
    Wie bei einem Kochtopf der Deckel hochgeht, brach diese Ader nach oben und brachte die Böschung zum Einsturz. Das Unglück hätte nicht verhindert werden können, betonte damals der zuständige Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt.
    wohnhaeuser und die abruchstelle am concordia-see in nachterstedt
    blick auf wohnhaeuser und die abruchstelle am concordia-see in nachterstedt (salzlandkreis), aufgenommen am 17.10.2009. nach einem bericht des mitteldeutschen rundfunks mdr hat es moeglicherweise schon jahre vor dem verheerenden unglueck in nachterstedt hinweise auf einen erdrutsch gegeben. im juli 2009 waren in der siedlung am sachsen-anhaltinischen concordia-see drei menschen von ins rutschen gekommenen erdmassen begraben worden und ums leben gekommen. foto: jens wolf dpa/lah (zu dpa 0117 vom 19.02.2010) +++(c) dpa - bildfunk+++
    Quelle: dpa

    Nachterstedt: Zurück zur Normalität?

    Heute, 15 Jahre nach dem Erdrutsch, ist das Areal rund um die Unglücksböschung in Nachterstedt noch immer Sperrgebiet. Die Sanierungsarbeiten sind weitestgehend abgeschlossen - dauern aber noch an.
    Seit 2019 ist der See immerhin auf der anderen Seite wieder freigegeben, ist in Schadeleben Baden, Surfen und Segeln wieder möglich. Eine Entwicklung auf die Nachterstedt auch heute, 2024, noch lange Jahre warten muss.
    Hans Fraust und Imke Wiesenberg blicken dem mit gemischten Gefühlen entgegen, Baden werden sie hier wohl nie. "Weil der See für mich das Grab meines Mannes ist", sagt Imke Wiesenberg. "Der liegt hier irgendwo bis in 100 Meter Tiefe, das überschreitet sowieso meine Vorstellungskraft."
    Aber auch ihr Mann hatte immer an die Zukunft des Concordiasees geglaubt - und so gönnt sie jedem anderen seinen Spaß. Sie selbst freut sich, irgendwann hier wieder spazieren und die Natur genießen zu können.
    Annette Pöschel ist Redakteurin im ZDF-Landesstudio Sachsen-Anhalt.

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