Evangelische Kirche: 2.225 Missbrauchsfälle laut Studie

    Mindestens 2.225 Betroffene:EKD-Studie: Mehr Missbrauch als angenommen

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    Eine neue Studie nennt erschreckende Zahlen zum Missbrauch in der Evangelischen Kirche: mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter.

    25.01.2024, Niedersachsen, Hannover: Martin Wazlawik, Koordinator des Forschungsverbundes ·ForuM·, übergibt bei einer Pressekonferenz eine Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche an Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD.
    Die Anzahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche in Deutschland liegt deutlich über den bisherigen Schätzungen. Einer bundesweiten Studie zufolge betrifft es Tausende.25.01.2024 | 2:52 min
    Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam stellte am Donnerstag in Hannover seine Studie vor, in der für die vergangenen Jahrzehnte von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist.
    Die ermittelten Fallzahlen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannte Fälle ein.
    Kerstin Claus
    Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, hat die evangelische Kirche kritisiert. Es fehle nach wie vor ein transparentes Regelwerk, sagt sie im ZDF.10.12.2023 | 0:20 min

    Forscher: Missbrauchsfälle nur die "Spitze des Eisbergs"

    Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs". Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht hätten strukturiert erfasst werden können, heißt es in der Mitteilung des Forscherteams. Untersucht wurden den Angaben zufolge flächendeckend nur Disziplinarakten.
    Dem Forschungsverbund standen aber deutlich weniger Akten zur Verfügung als etwa den Studienmachern der katholischen Studie zum sexuellen Missbrauch. So legte nur eine von 20 Landeskirchen umfassend Personalakten vor.
    Sievers spricht mit Prof. Dressing
    Die Ergebnisse der Missbrauchs-Studie in der Evangelischen Kirche seien "die Spitze der Spitze des Eisbergs". Der Zugang zu Akten war eingeschränkt, so Mitautor Prof. Dreßing.25.01.2024 | 5:36 min
    Studienmacher Martin Wazlawik kritisierte als ein Ergebnis der Studie die negativen Folgen der heterogenen Struktur der evangelischen Kirche für Missbrauchsopfer. Diese führe dazu, dass mit den Betroffenen unterschiedlich umgegangen werde.

    Das heißt, diese vielbeschworene evangelische Vielfalt hat hier ganz konkrete, oft nachteilige Folgen für die Betroffenen.

    Martin Wazlawik, Studienautor

    So seien Verantwortlichkeiten häufig nicht klar erkennbar.

    Laut Hochrechnung mehr als 9.000 Missbrauchsopfer

    In einer Hochrechnung, die aus Sicht des Forscherteams mit "sehr großer Vorsicht" betrachtet werden muss, ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9.355 Betroffenen bei geschätzt 3.497 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.
    Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs erklärte:

    Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten.

    Kirsten Fehrs, EKD-Ratsvorsitzende

    Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530.

    Die Telefonzeiten: Montag, Mittwoch und Freitag von 9 bis 14 Uhr und Dienstag und Donnerstag von 15 bis 20 Uhr.

    Die Rufnummer ist (auch im Zweifelsfall) eine Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, für Angehörige sowie Personen aus dem Umfeld von Kindern.

    Quelle: Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch

    Diese Bitte um Entschuldigung könne nur glaubwürdig sein, "wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen", so Fehrs. "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut." Das Gesamtbild habe sie "zutiefst erschüttert".

    Wir haben täterschützende Strukturen.

    Kirsten Fehrs

    Betroffene fordern Hilfe vom Staat

    "Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für Betroffene kein Gegenüber", sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes. Es brauche externe Fachleute und Beschwerdestellen.
    Aufarbeitung sei die Königsdisziplin, betonte Kracht. Aus ihrer Sicht fehle in den Landeskirchen aber Kompetenz und vermutlich auch Interesse, Fälle tatsächlich aufzudecken. "Wenn solche Nachforschungen nicht unternommen werden, bleiben Täter unentdeckt." Die Studie komme zwar spät, sie sei aber wichtig für die Betroffenen, da diese in die Untersuchung einbezogen worden seien, sagte Kracht.
    Sie bemängelte, dass die evangelische Kirche längst hätte handeln können. Die Studie könne daher nur ein Anfang sein.

    Wenn die EKD sich jetzt wieder in die Hinterzimmer zurückziehen will bis zur Synode, ist das eine derbe Enttäuschung für die vielen Betroffenen.

    Katharina Kracht, Studienbeirat

    Es dürfe nicht noch mehr Zeit vertrödelt werden. "Es ist genug, es ist schon lange genug."
    Quelle: EPD, dpa, AFP

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