Bad Oeynhausen: Umgang mit jungen Gewalttätern - fünf Thesen

    Gewalttat in Bad Oeynhausen:Mit jungen Gewalttätern umgehen: Fünf Thesen

    von Sarah Tacke und Samuel Kirsch
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    Die Tat von Bad Oeynhausen erschüttert, auch weil Getöteter und Hauptverdächtiger so jung sind. Wie umgehen mit Jugendlichen, die hemmungslos zuschlagen? Antworten in fünf Thesen.

    Gedenkfeier für Opfer
    Bei einem Angriff auf einen jungen Mann wird dieser schwer verletzt. Wenig später verstirbt er. Nun ist der mutmaßliche Täter gefasst und wird dem Haftrichter vorgeführt.27.06.2024 | 2:27 min
    Abiturienten feiern am vergangenen Wochenende im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen ihren Abschluss. Am Rande des Abiballs kommt es zu einer erschütternden Tat: Der 20-jährige Philippos wird so heftig gegen den Kopf geschlagen und getreten, dass er später im Krankenhaus an den Verletzungen stirbt. Ein 18-jähriger Syrer ist dringend tatverdächtig, sitzt in Untersuchungshaft, die Ermittlungen laufen.
    Dass es immer wieder zu solchen Gewaltausbrüchen kommt, Jugendliche oder gar Kinder zu Tätern und Opfern werden, zeigt: Es liegt etwas im Argen, wir müssen ohne Scheuklappen hinschauen.
    Am Puls mit Sarah Tacke
    "Ihr könnt mir nichts!" Polizisten und Co. bekommen das häufig zu hören. Seit der Neuköllner Silvesternacht wird diskutiert über fehlenden Respekt und gewaltbereite Jugendliche.03.08.2023 | 43:05 min
    Die ZDF-Dokumentation "Am Puls Deutschland - wenn Jugendliche zuschlagen" aus dem vergangenen Jahr hat genau das getan. Eine Reise durch die Republik, um dem Phänomen Jugendgewalt auf den Grund zu gehen. Kriminologen, Jugendrichter, Lehrer und Sozialarbeiter erklärten: Haben wir ein Gewaltproblem bei Jugendlichen, wie groß ist es und wie lösen wir es? Und auch junge Intensivstraftäter kamen zu Wort, Jungs, die zugeschlagen haben, geraubt und vergewaltigt.
    Die Erkenntnisse in 5 Thesen:

    Jugendgewalt tritt in Wellen auf

    Jugendgewalt ist kein neues Phänomen und keines, das je verschwinden wird. Aber: Aktuell zeigt die Gewaltkurve so stark nach oben wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Kriminalität und Gewalttaten durch junge Täter nehmen seit 2021 zu, wenn auch von einem im Vergleich zu den 1990er Jahren niedrigen Niveau her kommend.
    Person sprüht Graffiti an eine Wand
    Laut Lehrergewerkschaft GEW haben 95 Prozent der Lehrer an Förderschulen in den letzten Jahren Gewalt erlebt. Ein Sozialarbeiter und ein Kriminalpolizist analysieren die Ursache.08.02.2024 | 4:52 min
    Kriminologen sprechen davon, dass Jugendgewalt in Wellen auftritt; Wellen, die durch wirksame Präventions-, aber auch Reaktionsmaßnahmen gebrochen werden können und sollten.

    Gewaltaffine Männlichkeitsideale

    Die Ursachen für den Anstieg sind komplex. Kriminologische Studien zeigen etwa, dass Gewalt unter Jugendlichen akzeptierter wird, mehr Jugendliche als noch vor einigen Jahren es als legitim ansehen zuzuschlagen, um Konflikte auszutragen.
    Auch gewisse gewaltaffine Männlichkeitsideale, an denen sich männliche Jugendliche orientieren, wirken sich aus. Solche positiven Einstellungen gegenüber Gewalt führen, neben vielen anderen Faktoren, dazu, dass Jugendliche auch tatsächlich eher zuschlagen.

    Migrationshintergrund als Ursache?

    Das Thema Migrationshintergrund spielt eine Rolle, die nicht ausgeblendet werden darf, aber differenziert betrachtet werden muss. Nicht der Migrationshintergrund selbst, die Nationalität, das Geburtsland oder die Abstammung machen es wahrscheinlicher, dass Jugendliche gewalttätig werden. Risikofaktoren sind:

    • Erfahrungen mit Gewalt etwa im Elternhaus
    • eine "Ansteckungsgefahr" durch ein Umfeld aus kriminellen Freunden
    • häufiges Schuleschwänzen
    • Alkohol- und Drogenkonsum
    • sowie geringere Bildungschancen und damit verbunden weniger rosige Aussichten auf einen guten Job und ein stabiles soziales Umfeld.
    Diese Faktoren erhöhen bei Jugendlichen die Anfälligkeit dafür, straffällig und gewalttätig zu werden. Das gilt auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund - nur kommen die Risikofaktoren eben bei Jugendlichen mit bestimmten Migrationsbiografien verbreiteter vor als bei Jugendlichen ohne solche.
    Sarah Tacke
    ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke geht dem Problem von Jugendgewalt auf den Grund.03.08.2023 | 5:56 min
    Es gilt, Maßnahmen zu ergreifen, die diese Risikofaktoren reduzieren: Kontakt mit Eltern, Sprachförderung, Freizeitangebote und ein Bildungssystem, das Jugendlichen klare Perspektive bietet, wie sie etwas aus dem eigenen Leben machen können.

    Jugendliche Gewalttäter brauchen klare Regeln

    Je enger das Korsett, in dem Jugendliche mit Gewaltproblemen geführt werden, je klarer die Regeln. Und je konsequenter die Reaktionen bei Regelverstößen, desto höher ist die Chance, dass ein jugendlicher Gewalttäter die Kurve kriegt. Das haben wir etwa in einer alternativen Haftanstalt in Nordrhein-Westfalen erlebt.
    Bis zu 280 Gefangene sitzen in der JSA Arnstadt ein. In der täglichen Freistunde haben sie die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen.
    Sie sind jung, männlich und kriminell - die 280 Gefangenen der Jugendstrafanstalt Arnstadt in Thüringen, Deutschlands modernstem Jugendknast. ZDFinfo zeigt ihr Leben hinter Gittern.24.08.2020 | 44:58 min
    Die jugendlichen Intensivstraftäter dort, die sonst in einem klassischen Gefängnis in U-Haft säßen, werden eng von Sozialarbeitern betreut, leben einen straffen Alltag: morgens früh aufstehen, Putzdienste, Arbeiten in der hauseigenen Werkstatt. Beschäftigung für die Jugendlichen und ernsthafte Beschäftigung mit ihnen - das hilft.

    Justiz muss Täter adäquat bestrafen

    Bei aller Beschäftigung mit den Tätern dürfen wir die Opfer sinnloser Gewalttaten nicht aus den Augen verlieren. Sie sind unverschuldet in die Schusslinie geraten, müssen ausbaden, was bei den Tätern schiefgelaufen ist. Nicht selten ist das Leben von Menschen, nachdem sie Opfer von Gewalt geworden sind, dauerhaft beeinträchtigt.
    Im schlimmsten Fall haben sie es durch eine Tat verloren, wie der 20-jährige Philippos aus Bad Oeynhausen. Die adäquate Bestrafung der Täter dient der Vorbeugung weiterer Straftaten - aber nicht nur.
    Den Opfern von Gewalttaten und ihren Angehörigen muss unser Staat auch das Gefühl vermitteln: Die Justiz reagiert, arbeitet das geschehene Unrecht auf und stellt so die Ordnung wieder her. Das ist immens wichtig, auch für den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft insgesamt.
    Sarah Tacke und Samuel Kirsch arbeiten in der ZDF-Reaktion Recht & Justiz.

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