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Leipziger Buchmesse:Warum Habermas uns alle angeht
von Cornelius Janzen
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Jürgen Habermas hat die Debatten der alten Bundesrepublik wie kaum ein anderer geprägt. Ein neues Buch begibt sich auf Spurensuche nach dem Philosophen.
In seiner Biografie "Der Philosoph - Habermas und wir" entwirft Kulturwissenschaftler Philipp Felsch ein Porträt des polarisierenden Denkers Habermas.13.03.2024 | 8:33 min
Völkermord. Dieser Vorwurf wurde in den vergangenen Wochen immer wieder gegen Israel erhoben. Doch wer dem israelischen Vorgehen in Gaza genozidale Absichten unterstellt, dessen Maßstäbe verrutschen, formulierte Jürgen Habermas bereits im November in einer Stellungnahme. Kulturwissenschaftler Philipp Felsch, der sein Buch über den Philosophen auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt hat, sagt:
Felsch geht in seinem Buch der Frage nach, wie sehr Habermas die Entwicklung der Bundesrepublik intellektuell begleitet und damit das Selbstbild der Deutschen bis heute geprägt hat.
Habermas "hat eine enorm direkte, zugewandte, wache Art"
Zweimal hat er Habermas in seinem Haus in Starnberg besucht. "Er hat so eine enorm direkte, zugewandte, wache Art. Der erste Eindruck war der eines Kosmopoliten. Dann haben wir uns zum Kaffeetrinken in die Couch-Ecke gesetzt und es gab Tee und Marmorkuchen, eine merkwürdige Mischung aus Kosmopolitismus und Provinzialität."
Gert Scobel spricht mit Philipp Felsch über sein Porträt des Philosophen Jürgen Habermas.21.03.2024 | 14:31 min
1929 wird Habermas geboren. Wächst mit dem Schrecken der NS-Zeit auf. Medizinische Eingriffe wegen einer Sprachbehinderung sorgen bei ihm für traumatische Erfahrungen. Seine Obsession für kommunikative Verständigung wurzele hier, mutmaßt er einmal.
Habermas wollte Deutschland "von innen verändern"
Wie gelingt der Weg aus einer Diktatur in die Demokratie? Diese Frage verbindet ihn mit Theodor W. Adorno. 1956 holt dieser ihn als Assistent ans Frankfurter Institut für Sozialforschung. Hier entsteht die Idee einer Republik, in der erst der öffentliche Diskurs politischen Konsens ermöglicht.
Demokratie - keine Selbstverständlichkeit19.03.2024 | 1:35 min
1964 wird Habermas in Frankfurt Professor für Philosophie und Hoffnungsträger linker Studierender. Doch als sich Studentenführer Rudi Dutschke nach dem Tod von Benno Ohnesorg bei einem Kongress im Juni 1967 gegen die "Spielregeln der Demokratie" wendet, wirft ihm Habermas linken Faschismus vor. Es kommt zum Bruch.
In diesem Geist begleitet Habermas den Marsch der 68er-Generation durch die Institutionen. Nimmt Anteil und übt Kritik. Davon zeugt auch sein Vorlass an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Habermas gegen Relativierung deutscher Schuld
Habermas gewährte Felsch Einblicke in Tausende Seiten Briefwechsel. "Habermas wurde heftig angegriffen. Und beschimpft. Da sind die politischen Emotionen von 50 Jahren deutscher Nachkriegsgeschichte drin."
Er habe jeden einzelnen Zeitungsartikel aus Zorn geschrieben, hat er Felsch verraten. 1986 adressierte Habermas einen Artikel an Ernst Nolte und löste damit den Historikerstreit aus.
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Historiker Nolte sah in der Vernichtungspolitik der Nazis eine Reaktion auf vorhergehende sowjetische Verbrechen. Habermas kritisierte eine solche Relativierung deutscher Schuld und setzte damit Maßstäbe.
"Hier wurde ein Konsens geschaffen, der von liberal-konservativ bis links von der SPD ein Bekenntnis zur Republik und zur politischen Kultur Deutschlands ermöglicht hat", so Felsch. "Habermas war da entscheidend. Insofern ist er ein Geburtshelfer dieses breiten gesellschaftlichen Konsenses."
"Wie wir wurden, was wir sind" - ein Stimmungsbild der deutschen Nachkriegsjahre.20.10.2020 | 43:51 min
Habermas blickt düster in politische Zukunft
Doch wenn es um Krieg und Frieden geht, steht Habermas heute im Abseits. Im Februar 2023 plädierte er für Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und erntete dafür Unverständnis. Habermas sei eine "Schande für die deutsche Philosophie", schrieb der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk.
Dass der Krieg zum Mittel der Politik geworden sei, schockiere Habermas heute genauso wie die Tatsache, dass die USA ihre Glaubwürdigkeit als eine von Werten geleitete Ordnungsmacht verloren habe, so Felsch.
Alles, was sein Leben ausgemacht habe, gehe derzeit Schritt für Schritt verloren, hat Habermas Felsch gestanden. Philipp Felsch macht deutlich, wie uns der moralische Kompass des Philosophen geprägt hat, nährt aber auch die Zweifel daran, ob uns Habermas auch heute noch neue Horizonte eröffnen kann.
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