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"Sehr rege, sehr wach":Philosoph Jürgen Habermas wird 95
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Jürgen Habermas ist 95 Jahre alt geworden. Das hohe Alter hält Deutschlands bekanntesten Philosophen allerdings nicht davon ab, weiterzuarbeiten und sich politisch zu äußern.
Jürgen Habermas veröffentlichte 2019 "Auch eine Geschichte der Philosophie".
Quelle: dpa
Mit 95 Jahren hat sich der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas noch nicht zur Ruhe gesetzt. "In irgendeiner Arbeit steckt er immer", sagt Roman Yos, der zusammen mit Habermas und dessen Biografen Stefan Müller-Doohm an einem Gesprächsband für den Suhrkamp Verlag arbeitet.
Er erlebe ihn als "sehr rege, sehr wach, geistig punktgenau fixiert", schildert Yos der Deutschen Presse-Agentur. Habermas selbst gibt nach Auskunft seines Verlags keine Interviews mehr.
Der 1929 in Düsseldorf geborene Habermas begann seine wissenschaftliche Karriere 1956 an der Universität Frankfurt. Dort arbeitete er als Assistent für Theodor W. Adorno, der zusammen mit Max Horkheimer einer der wichtigsten Vertreter der "Frankfurter Schule" ist. 1964 erbte Habermas Horkheimers Lehrstuhl. Er gehörte zu den Vordenkern der 68er-Studentenbewegung. Habermas' Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns", erschien 1981. Der Philosoph lebt heute in Starnberg in Bayern.
Quelle: dpa
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Habermas plant kein weiteres Mammutwerk
Verstummt ist der große Denker aber keineswegs. Ein Mammutwerk wie das 2019 erschienene 1775-Seiten-Opus "Auch eine Geschichte der Philosophie" plane er nicht mehr. Aber immer wieder meldet er sich mit Essays für große Tageszeitungen oder wissenschaftliche Publikationen zu aktuellen Themen zu Wort.
Themen wie Corona, der Ukraine-Krieg, der Nahost-Konflikt haben ihn in den letzten Jahren beschäftigt.
Der Philosoph und der öffentliche Intellektuelle
Dass der Name Habermas so vielen Menschen bekannt ist, liegt auch daran, dass es eigentlich zwei von ihm gibt: den Philosophen, dessen wissenschaftliches Werk für Laien "voraussetzungsreich und sperrig" erscheinen mag, wie Yos es formuliert - und den öffentlichen Intellektuellen, der sich in tagesaktuelle Debatten einschaltet.
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Jürgen Habermas als öffentlicher Intellektueller
In den 1980er-Jahren gab es Tendenzen, die deutsche Schuld am Holocaust zu relativieren. Diese Debatte gipfelte im sogenannten Historikerstreit, bei dem Jürgen Habermas als schärfster Kritiker auftrat. Am 11. Juli 1986 veröffentlichte die "Zeit" den Artikel "Eine Art Schadensabwicklung". Darin kritisierte Habermas "die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung", wonach Hitler den Holocaust als Reaktion auf stalinistische Verbrechen begangen habe. Stattdessen bekannte sich Habermas klar zur deutschen Schuld und zu den Lehren, die die Bundesrepublik aus dem Holocaust gezogen habe: "Wer uns mit einer Floskel wie 'Schuldbesessenheit' (...) die Schamesröte über dieses Faktum austreiben will, (...) zerstört die einzig verlässliche Basis unserer Bindung an den Westen." Habermas' Einspruch wirkt bis heute nach: Vergleiche mit dem Holocaust verbieten sich weitgehend in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Sie gehen meistens schief, weil sie als Verharmlosung oder Relativierung wahrgenommen werden.
Mittlerweile gilt Jürgen Habermas als glühender Europäer. Das war aber nicht immer so. Noch 1976 sagte Habermas: "Ich bin kein Europa-Fan, war es auch nicht, als es Mode war." Der Grund für seine Europa-Skepsis war der damalige Vorläufer der EU, der sich allein auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit konzentriert hatte. Das hat sich später dann stark gewandelt. Entsprechend hat sich auch Habermas' Europa-Haltung geändert. Der Philosoph plädiert für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Er ist dafür, dass sich die sogenannte Euro-Union - also die EU-Staaten, die den Euro als Währung haben - weiter vernetzt und integriert. Staaten, die weniger Integration wünschen, sollten dennoch in der EU eine Heimat finden. "Eine Union, die über Kern und Peripherie verfügt, kann sowohl britischen Wünschen nach Rückübertragung bestimmter Kompetenzen wie auch umstrittenen Beitrittswünschen (beispielsweise der Türkei) eher entgegenkommen", schrieb Habermas vor Jahren, als weder der Brexit noch die konservative Wende in der Türkei vorherzusehen waren. Habermas ist für eine Stärkung des EU-Parlaments, um das demokratische Defizit auszugleichen - und um mehr europäische Debatten in die Mitgliedsländer zu tragen.
Habermas gehörte zu den Kritikern des von US-Präsident George W. Bush angeführten Irak-Krieges. Er störte sich auch daran, dass mache Länder das amerikanische Vorpreschen widerspruchslos hinnahmen. "Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren", forderte Habermas. Der Soziologe Hartmut Rosa bekannte in der "Zeit", der Irak-Krieg habe ihn zum "Habermasianer" gemacht - denn Habermas insistiere auf "die drei Geltungsansprüche Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit bei jeder Ausübung von Gewalt". Habermas stelle die entscheidenden Fragen: "Stimmt es, dass der Irak Massenvernichtungswaffen produziert? Gibt uns dies das Recht, dort einzumarschieren? Und geht es wirklich um Massenvernichtungswaffen und Menschenrechte - oder um geostrategische Interessen?" Habermas' Fragen hätten eine "unbestechliche Klarheit" und schenkten "Orientierung in einem öffentlichen Diskurs, der von Propaganda, Ideologie und zum Teil von Demagogie beherrscht wurde", schreibt Rosa.
von Raphael Rauch
von Raphael Rauch
Dass seine Einlassungen mit langem Atem ausargumentiert sind und sich nicht auf eine Schlagzeile verkürzen lassen, versteht sich von selbst. Dass er sich damit auch Kritik aussetzt, kalkuliert er ein und ist sogar gewünscht. Denn die Debatte, der Austausch von Argumenten, das Ringen um Verständigung ist auch als Philosoph eines seiner Kernthemen.
Für sein Alter geht es Habermas wohl erstaunlich gut
Gesundheitlich gehe es ihm für sein Alter erstaunlich gut, berichtet Yos. Auch seine nahezu gleich alte Ehefrau lebt noch, allerdings ist eines seiner drei Kinder kürzlich verstorben. Seit Jahrzehnten lebt der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geborene Habermas am Starnberger See, auch wenn seine berufliche Tätigkeit vor allem mit Frankfurt am Main verbunden ist.
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Die Schnelllebigkeit der sozialen Medien, die aggressiv aufgeheizte Debattenkultur, das Vordringen autoritärer Kräfte - all das muss ihm fremd sein, ihn vermutlich auch abstoßen.
Das Konzept der Vernunft steht über allem
Dennoch glaube Habermas unverbrüchlich an das Konzept der Vernunft, sagt Yos. "Es gibt für ihn keine Alternative." Allerdings habe er die ehemals überhöhte Vernunft-Idee quasi auf die Erde zurückgeholt in Form einer "detranszendentalisierten Vernunft".
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Wem jetzt schon die Ohren klingeln, ist in großer Gesellschaft. Seine bedeutendsten Schriften wie "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962) oder die "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) sind ebenso einflussreich wie anspruchsvoll. Im nicht deutschen Sprachraum wird Habermas nach Yos' Einschätzung bis heute als einer der bedeutendsten deutschen Denker wahrgenommen.
Bedeutende Werke von Jürgen Habermas:
In seiner Habilitationsschrift zeichnet Habermas die Grundlagen eines gesellschaftskritischen Denkens und Handelns nach, das demokratischen Traditionen verpflichtet ist.
In der Studie stellt er heraus, dass es keine «objektive» Erkenntnis gibt. Sowohl in der Wissenschaft als auch im politischen und gesellschaftlichen Handeln sei sie abhängig vom jeweiligen Interesse.
In seinem Hauptwerk entwirft Habermas eine Art Handlungsleitfaden für die moderne Gesellschaft. Seiner Theorie zufolge liegen die Norm setzenden Grundlagen einer Gesellschaft in der Sprache. Als Verständigungsmittel ermögliche sie erst soziales Handeln.
In der Reihe sind seine Beiträge zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen zusammengefasst, etwa zur Europäischen Union ("Ach, Europa") oder zur Globalisierung.
Darin entwickelt Habermas ein Rechts- und Staatsmodell für seine Theorie der Moderne.
Im Mittelpunkt der Sammlung steht die Frage, ob es einen Wirklichkeitsbezug gibt, der allen Menschen und Kulturen gemeinsam ist oder ob jede Kultur ihre eigene Wahrheit hat.
Thema ist die Kontroverse um das ethische Selbstverständnis des Menschen vor dem Hintergrund von Stammzellenforschung und vorgeburtlicher Diagnostik.
Habermas wirbt dafür, den "religiösen Gehalt" der Moralbegriffe in eine säkulare Sprache zu übersetzen, ihn zu retten statt zu eliminieren.
Zum 80. Geburtstag des Philosophen hat der Suhrkamp Verlag in fünf Bänden ältere Texte neu publiziert.
(Quelle: dpa)
(Quelle: dpa)
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