Unglück auf der Ostsee: Estonia-Untergang vor 30 Jahren

    Schiffsunglück vor 30 Jahren:"Estonia" - Das Massengrab in der Ostsee

    von Leon Stojanovic
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    Mit 852 Toten ist es das größte Schiffsunglück der europäischen Nachkriegszeit. Doch wie kam es zum "Estonia"-Untergang? Darüber wird auch heute, nach 30 Jahren, noch spekuliert.

    Unterwasserkamera-Aufnahme der gesunkenen Estonia
    Das Unglück der "Estonia" bleibt ein Rätsel. Mit 852 Toten zählt es zu den größten Schiffsunglücken Europas. Eine neue Untersuchung könnte 2025 Antworten liefern.23.09.2024 | 10:44 min
    Es ist die Nacht zum 28. September 1994. Windstärke 9. Meterhohe Wellen toben über die Ostsee. Im Hafen von Tallin legt leicht verspätet die Fähre "Estonia" ab. Ziel: Stockholm.

    Notruf mitten in der Nacht

    Um die Verspätung einzuholen, fährt der Kapitän schneller, als es bei den Bedingungen angemessen wäre. Dieser Last kann das Bugvisier aber auf Dauer nicht standhalten und reißt nach vier Stunden ab. Wasser strömt ins Schiff, es gerät in Schräglage und beginnt zu sinken.
    Um 1:24 Uhr funkt die Estonia ein letztes Mal SOS, doch jede Hilfe kommt zu spät. Das Schiffsinnere wird durch die Schräglage zu einer Todesfalle.
    Für die wenigen Personen, die es an Deck geschafft haben, beginnt nun ein Überlebenskampf im eiskalten Wasser. Als die Rettungskräfte 40 Minuten später eintreffen, ist ein Großteil der Menschen an Bord bereits gestorben. Überleben werden 137.

    Nach dem Untergang: Ermittlungen und Verschwörungstheorien

    Seit dem tragischen Untergang der Estonia ranken sich unzählige Gerüchte um die Ursache des Untergangs. Wie konnte sich das 55 Tonnen schwere Bugvisier, die Klappe zum Fahrzeugdeck, lösen? Gab es eine Explosion oder eine Kollision mit einem U-Boot?
    Dem offiziellen Untersuchungsbericht von 1997 zufolge war alleinig das abgerissene Bugvisier schuld am Untergang der Fähre. Auch Hendrik Dankowski, Ingenieur am Institut für Schiffbau und Maritime Technik an der Fachhochschule Kiel, geht von derselben Ursache aus. Er forscht seit 13 Jahren zur Estonia.

    Das schwere Wetter, (...) verbunden mit der schnellen Fahrt, führte zum Versagen des Bugvisiers. Die Besatzung hat das zu spät erkannt und dann auch zu spät darauf reagiert. Das führte dann zum weiteren Fluten des Schiffes.

    Hendrik Dankowski, Professor am Institut für Schiffbau und Maritimer Technik an der FH Kiel

    Das Fährschiff Estonia in der Frontansicht
    Vor 30 Jahren sank die Fähre Estonia in der Ostsee. 852 Menschen verloren ihr Leben. Das Unglück bleibt eine der tragischsten Schiffskatastrophen der europäischen Geschichte.
    Quelle: ap

    Gerüchte halten sich hartnäckig

    Über die Jahre gab es diverse Ermittlungen und Gutachten, die alle zu dem Ergebnis kamen, zu dem auch der erste Bericht gelangt ist. Trotzdem halten sich die Gerüchte zum Untergang - wie etwa die Theorie von Journalistin Jutta Rabe, dass Geheimdienstagenten eine Bombe im Schiff platziert hätten - hartnäckig.
    Befeuert werden Gerüchte wie dieses durch fragwürdiges Verhalten der Ermittler und Behörden. So sollten beispielsweise erst die Leichen geborgen werden, dann sollte die Estonia mit einem Betonsarkophag oder Schutt bedeckt werden.
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    Letztendlich wurde das Wrack per Gesetz zur Grabstätte erklärt. Unterschrieben von allen Ostseeanrainerstaaten außer Deutschland sollte allen Personen untersagt werden, sich der Estonia zu nähern.
    Das unbekannte Loch in der Estonia
    Eine Gruppe schwedischer Dokumentarfilmer gelang 2019 allerdings dennoch, am Wrack zu filmen, weil sie sich auf einem deutschen Schiff befanden. Das schwedische Filmteam fuhr mit der MS Fritz Reuter aus Rostock zur Unglücksstelle und entdeckte dort ein bisher unbekanntes Loch im Schiff. Ihr Fund sollte weitere Spekulationen und Ermittlungen anschieben. Gab es doch eine Explosion? Experten verneinen.

    Dieser Riss ist auch problemlos anders zu erklären. Auf jeden Fall auch mit dem Aufschlagen auf den Meeresgrund, möglicherweise auch durch das Bugvisier, das im Wasser am Rumpf entlang geschwommen ist.

    Hendrik Dankowski, Institut für Schiffbau und Maritimer Technik an der FH Kiel

    Der aktuelle Stand nach 30 Jahren

    65 Migranten gerettet
    :Tote bei Bootsunglück im Ärmelkanal

    Im Ärmelkanal ist ein überladenes Flüchtlingsboot gekentert. Dabei sind zwölf Menschen gestorben. Bei den Überfahrten kommt es immer wieder zu tödlichen Unglücken.
    Eine Gruppe von Menschen, bei denen es sich vermutlich um Migranten handelt, wird nach einem Zwischenfall mit einem kleinen Boot im Ärmelkanal an Bord des RNLI-Rettungsboots Dungeness nach Dover (Kent) gebracht.
    mit Video
    Nach zahlreichen Untersuchungen bleibt der Tenor gleich: Das Bugvisier ist abgerissen und sorgte für den Untergang der Estonia. Die schwedische Staatsanwaltschaft schloss den Fall mit dieser Begründung ab. Estland wird 2025 einen finalen Bericht veröffentlichen. Und vielleicht kommt damit der Mythos Estonia zur Ruhe.

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