Bildungssystem: Lehrer überfordert wegen Zuwanderung?

    Bildung und Integration:Schulsystem: Überfordert wegen Zuwanderung?

    ZDF-Reporterin Anna Gürth
    von Anna Gürth
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    Je mehr zugewanderte Kinder in der Klasse, desto geringer die Motivation unter den Schülerinnen und Schülern, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Stimmt das wirklich?

    Schüler und Schülerinnen der 9. Klasse während des Unterrichts in einem Gymnasium
    Schüler und Schülerinnen der 9. Klasse während des Unterrichts in einem Gymnasium.
    Quelle: imago/Sven Simon

    Zu wenig Lehrer, zu wenig Geld. Der nationale Bildungsbericht attestiert: Das System arbeite "am Anschlag". Welche Rolle spielen dabei Kinder und Jugendliche, die kein oder kaum Deutsch sprechen? Darüber wird aktuell hitzig diskutiert.

    Lehrer überfordert durch Zuwanderung?

    Der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler in den Klassen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das überfordere die Lehrerinnen und Lehrer, sagt der Deutsche Lehrerverband. Dessen Präsident Stefan Düll erklärt im Interview mit ZDFheute:

    Sie können schließlich kein Farsi, kein Arabisch und auch kein Ukrainisch. Wie sollen sie da unterrichten?

    Stefan Düll, Präsident Deutscher Lehrerverband

    ... vertritt nach eigenen Angaben ca. 165.000 Lehrerinnen und Lehrer. Zum Dachverband gehören der Deutsche Philologenverband, der Verband Deutscher Realschullehrer, der Bundesverband der Lehrkräfte für Berufsbildung und die Katholische Erziehergemeinschaft.

    Deutscher Lehrerverband: Zuwanderung "permanenter Stresstest"

    Der hohe Anteil von Kindern, die kaum oder gar kein Deutsch sprächen, wirke sich auf die ganze Klasse aus. Das Ergebnis: Die allgemeine Motivation sinke.
    "Wir haben einen permanenten Stresstest laufen, weil auf die Schulen immer mehr junge Menschen hereinströmen, die Deutsch nicht gut oder gar nicht beherrschen", so Düll weiter.
    Cover des nationalen Bildungsberichts
    Dem nationalen Bildungsbericht zufolge ist das Bildungssystem in Deutschland am Anschlag. Unter anderem sollen Personal sowie Geld fehlen; die soziale Ungleichheit bleibe hoch.17.06.2024 | 0:30 min

    Bildungsgewerkschaft GEW: "Populistische Rechnung"

    Ein hoher Anteil von zugewanderten und geflüchteten Kindern - eine weitere Herausforderung für ein System, das ohnehin schon an der Belastungsgrenze ist. Eine Zustandsbeschreibung, bei der viele mitgehen können. Für seine Äußerungen wird Stefan Düll jedoch scharf kritisiert. Warum?

    Ich finde es schäbig, Kindern und Jugendlichen so eine Verantwortung zu übertragen.

    Monika Stein, Bildungsgewerkschaft GEW Baden-Württemberg

    Die baden-württembergische Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Monika Stein, erklärt weiter: "Fakt ist: Die Schulen sind überfordert, überlastet. Das waren sie aber schon bevor so viele Geflüchtete aus der Ukraine zu uns gekommen sind".

    Die Schulen sind unterversorgt und haben zu wenig Ressourcen, um mit Krisensituationen umzugehen. Das hat sich schon in der Corona-Zeit gezeigt.

    Monika Stein, GEW-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg

    Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist die Bildungsgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Sie zählt nach eigenen Angaben mehr als 270.000 Mitglieder aus unterschiedlichen Bereichen von Bildung und Erziehung.

    Zugewanderte Kinder als Sündenbock?

    Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte würden durch die Äußerungen Dülls direkt für Probleme im Bildungssystem verantwortlich gemacht - etwa für mangelnde Motivation in der Klasse.
    Das kritisiert auch die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag. Die schulpolitische Sprecherin Dilek Engin sagt:

    Anstatt die wahren Ursachen unserer Bildungskatastrophe zu benennen, wird ein Sündenbock kreiert, der für eine offenbar verfehlte Bildungspolitik als Erklärung herhalten muss.

    Dilek Engin, schulpolitische Sprecherin in NRW

    Lehrerverband: "Dinge beim Namen nennen"

    Schäbig, populistisch, Sündenbock - was sagt Stefan Düll zu diesen Reaktionen?

    Ich beschreibe Tatsachen.

    Stefan Düll, Präsident Deutscher Lehrerverband

    "Wir müssen die Dinge beim Namen nennen, offen darüber reden und uns dann daran machen dieses Problem zu lösen", so Düll weiter. Er fordert:
    • kleinere Lerngruppen
    • mehr flankierendes Personal, besonders an Grundschulen
    • Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter - damit Lehrer sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren könnten
    "Diese Kinder sind da - das ist für sie gut und richtig. Dann haben wir uns aber auch darum zu kümmern, dass sie die bestmögliche Bildung bekommen, so wie alle anderen", so Düll.
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    Schulleiterin: Kinder wollen Sprache lernen

    Wie blicken betroffene Schulen auf diese Debatte? Nachfrage bei Barbara Mächtle, Schulleiterin der Grundschule Gräfenau in Ludwigshafen. 98 Prozent der Schülerinnen und Schüler hier haben einen Migrationshintergrund, viele sprechen kaum Deutsch.
    "Wenn ich in die Schule komme und spreche die Sprache nicht, habe ich natürlich Probleme, im Unterricht mitzukommen", so Mächtle. Im letzten Jahr blieben an ihrer Schule 40 Erstklässler sitzen, in diesem Jahr sieht es ähnlich aus.

    Ich kann aber nicht zustimmen, dass die Motivation in meinen Klassen schwieriger oder geringer ist. Die Kinder wollen lernen und sind auch fleißig.

    Barbara Mächtle, Schulleiterin

    Für Kinder, die in der Familie eine andere Sprache spräche oder erst kürzlich zugewandert seien, sei Deutsch nun mal eine Fremdsprache, so Mächtle. "Daher brauchen die Kinder hier auch nochmal ein bisschen länger Zeit."

    Geflüchtete Kinder und Jugendliche: Besonders benachteiligt

    Das Jahresgutachten des Sachverständigenrats Integration und Migration zeigt indes, wer unter einem überlasteten Bildungssystem besonders leidet: Zugewanderte Kinder und Jugendliche - und insbesondere solche mit Fluchterfahrung - schaffen es seltener aufs Gymnasium, erlangen häufiger überhaupt keinen Schulabschluss.

    Es wäre fatal, wenn neu zugewanderte Kinder und Jugendliche zu einer 'verlorenen Generation' würden.

    Sachverständigenrat für Integration und Migration, Jahresgutachten 2024

    Brandenburg, Eisenhüttenstadt: Migranten gehen über das Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt.
    Das Jahresgutachten vom Sachverständigenrat Integration und Migration zeigt das Bewusstsein über Zuwanderung auf. Besonders werden Probleme beim Thema Bildung hervorgehoben.14.05.2024 | 1:45 min
    Weiter heißt es im Gutachten: Eine vielfältige Schülerschaft sei keine neue Erscheinung, doch der akute Fachkräftemangel mache es den Schulen schwer, sich auf die unterschiedlichen Bedarfe einzustellen.
    Anna Gürth ist Reporterin im ZDF-Landesstudio Baden-Württemberg.
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