Die vier Literaturexpert:innen diskutieren über die Bücher von Durs Grünbein, Zadie Smith, Tijan Sila und Benjamín Labatut.
Durs Grünbein
"Der Komet", Suhrkamp 2023.
Dora wird als Sechzehnjährige Mutter, sie erlebt die Machtergreifung der Nationalsozialisten und überlebt mit fünfundzwanzig den Untergang Dresdens im Feuersturm 1945. Aufgewachsen als Ziegenhüterin in Niederschlesien, findet sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben und folgt ihm nach Dresden. Hier erlebt sie zunächst scheinbar unbelastete Jahre, aber dann bricht der Krieg aus und läutet das Ende der sächsischen Metropole und einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft ein. Wie ein Menetekel des kommenden Untergangs und dem Ende aller Träume von einer besseren Zukunft wirkt dabei das Auftauchen des Halley’schen Kometen im Jahr 1910.
Zadie Smith
"Betrug“, Kiepenheuer & Witsch 2023.
London 1873. Eliza besucht regelmäßig die Gerichtsverhandlungen des sogenannten Tichborne-Falls, in denen ein Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der vermögenden Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ein ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit immer näher. Der Fall Tichborne gehört bis heute zu den spektakulärsten Gerichtsprozessen Großbritanniens. Er bewegte die Massen im viktorianischen England und wiegelte Arm gegen Reich auf. Basierend auf historischen Fakten lotet der Roman die Untiefen von Wahrheit und Fiktion, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins aus.
Tijan Sila
"Radio Sarajevo”, Hanser 2023.
Als im Frühjahr 1992 der Krieg im zerfallenden Jugoslawien beginnt, ist Tijan Sila gerade mal zehn Jahre alt, und bis heute kann er sich an den Geruch von gezündetem Sprengstoff erinnern. Während Sarajevo in Flammen steht, wird aus dem kleinen Jungen ein junger Mann. Er streift durch die Ruinen der ausgebombten Stadt und sammelt Dinge, die von den Geflohenen und Gestorbenen zurückgeblieben sind, um sie auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel zu tauschen. Tijan Sila erzählt, wie Dichter zu Mördern werden und Mörder zu Helden. Er berichtet von Menschen, denen jede Menschlichkeit genommen wurde, und von dem Preis, den die Überlebenden für ihr Überleben bezahlen.
Benjamín Labatut
„Maniac“, Suhrkamp 2023.
John Neumann, Pionier der künstlichen Intelligenz und Geburtshelfer der Atombombe beim amerikanischen Manhattan-Projekt 1942, gilt als Exzentriker, der die Grenzen des Denkbaren sprengt und dessen Forschungsergebnisse die Welt aus den Angeln heben. Sein Schicksal verknüpft Labatut mit dem des deutschen Physikers Paul Ehrenfest, der im Erstarken des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren zunehmend panisch die Wirkmacht des tyrannischen Irrationalen vorhersieht. Mit der Erschaffung einer künstlichen Intelligenz namens AlphaGo scheint die Vision Neumanns Wirklichkeit zu werden: eine autonome Maschine, die sich gänzlich der menschlichen Kontrolle entzieht.
Weihnachtsbuchtipps
von Thea Dorn:
Matti Friedman: "Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens", Hentrich & Hentrich 2023.
von Jagoda Marinić:
Paul Auster: "Baumgartner", Rowohlt 2023.
von Nele Pollatschek:
Florian Werner: "Die Zunge", Hanser Berlin 2023.
von Philipp Tingler:
Thomas Mann: "Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe". Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd.3, S. Fischer 2014.