In "Ziemlich beste Nachbarn" geht es um Klischees, Stereotypen und Vorurteile. Welche Klischees haften uns Deutschen an?
Die deutsche Pünktlichkeit und unsere Zuverlässigkeit werden von unseren Nachbarn sehr geschätzt. Außerdem imponiert Italienern – aber auch Briten und Russen – die gute Infrastruktur in Deutschland sowie die Akribie, mit der geplant und organisiert wird. Wir wissen ja, dass das vielleicht im Prinzip nicht ganz falsch ist, aber dass es auch bei uns manchmal anders zugeht.
Wie gut kannten Sie Russland, Italien und Großbritannien, bevor es mit den Dreharbeiten losging?
Tatsächlich kannte ich die drei Länder vor den Dreharbeiten kaum. In Italien und England hatte ich nur die Hauptstädte besucht, die Länder aber nicht wirklich bereist, in Russland war ich für die TV-Reihe zum ersten Mal. Insofern konnte ich mich, stellvertretend für die Zuschauer, neugierig und abenteuerlustig auf den Weg machen – mit dem Ziel, unsere Nachbarn besser kennenzulernen und die Bilder und Klischees, die wir alle im Kopf haben, zu überprüfen.
Sind unsere europäischen Nachbarn wirklich so, wie wir denken?
Das ist die Frage, die mich in dieser Reihe antreibt. Welche Vorstellung hatten Sie vor Ihrer Reise von Russland? Das Bild vom amerikanischen Freund und russischen Feind sitzt immer noch tief in uns. Man hört immer wieder, die Russen würden ganz Berlin aufkaufen und sich im Urlaub daneben benehmen. Russen seien laut, tränken viel, seien ganz anders als wir – Klischees dieser Art hatte auch ich im Kopf.
Und wie haben Sie Russland erlebt?
Ich war und bin noch immer fasziniert von diesem Land. Die Menschen sind herzlich, offen, zumeist sehr gebildet und uns in vielem ähnlicher, als ich dachte. Und was war oder ist für Sie typisch britisch? Typisch britisch – das ist die Höflichkeit, die guten Umgangsformen, der Humor, der große Stolz auf Geschichte und Tradition und natürlich das geliebte Königshaus.
Und stimmt das Klischee?
Allerdings. Der berühmte britische Humor ist unübertroffen und schwärzer als das Klischee. Wahr ist auch die Tatsache, dass Großbritannien gern seine Extrawürste brät, wie auch jetzt wieder mit dem Brexit. Der geplante Austritt aus der EU ist keine Überraschung, aber sehr schade, wie ich finde. Europa ist ein toller Gedanke, wir brauchen gemeinsame Lösungen und keine Einzelgänger.
Und wie haben Sie Italien erlebt?
Das gute Essen, la Dolce Vita, der Genuss. Bei Italien, das wir Deutsche wahrscheinlich am besten kennen, neigen wir zum Romantisieren. Wir sind versucht, das Leben in Bella Italia zu verklären. Tatsächlich hat unser europäischer Nachbar aber große Probleme, und das Chaos im politischen und täglichen Leben kann niemandem verborgen bleiben, der das Land besucht. Dennoch das genussvolle Leben im hier und jetzt ist kein Klischee und, wie ich finde, durchaus bewundernswert.
Was hat Sie auf Ihren drei Reisen besonders überrascht?
Besonders überrascht war ich von Russland und den Russen. Die Russen sind uns nämlich sehr ähnlich: Erst einmal ernst und distanziert, vielleicht ein bisschen schlecht gelaunt. Das kennen wir ja auch aus Deutschland. Doch wenn das Eis gebrochen ist, gibt es einen intensiven, sehr herzlichen Austausch. Russland ist ein faszinierendes Land, Moskau hat mich begeistert. Land und Leute waren mir am Ende der Reise gar nicht mehr fremd.
Welche allgemeinen Erkenntnisse haben Sie von Ihren Reisen mitgebracht?
Wichtig ist für mich die Erkenntnis, dass uns Klischees oft im Weg stehen. Sie verhindern den offenen Blick und die Neugierde. Besser ist es über die "Klischee-Hürden" zu springen, sie hinter sich zu lassen und sich ein eigenes Bild zu machen. Das ist ein Abenteuer und macht großen Spaß. Unsere Filme sind eine Einladung, die eigenen Klischees und Vorurteile zu überprüfen und vielleicht einen neuen Blick auf die Nachbarn zu werfen.
Was meinen Sie, bemühen wir uns hierzulande genug, unsere europäischen Nachbarn kennenzulernen?
Leider nein. Wir reisen zwar gern, aber bleiben oftmals zu sehr unter uns. Etwas mehr Neugierde und Lust auf Land und Leute täten vielen gut. "All inclusive" im Urlaubsressort kann man ein Land nicht kennenlernen.
Welche Frage würden Sie sich selbst stellen?
Herr Kessler, überprüfen Sie selbst Ihre Bilder im Kopf regelmäßig? Neugierig bleiben, Augen und Ohren offen zu halten, ist nämlich verdammt wichtig – für uns alle.
Das Interview führte Barbara Gauer.