Herr May, welche Qualitäten sollte ein Unternehmer idealerweise haben?
Zur besonderen Qualität, die erfolgreiche Unternehmer auszeichnet, gehört in allererster Linie das, was man gemeinhin Unternehmergeist nennt. Das heißt, die Bereitschaft voranzugehen und Risiken einzugehen, die vielleicht nicht jeder auf sich nehmen würde. Auch Durchsetzungsfähigkeit gehört dazu: Unternehmer wollen besser sein als ihre Wettbewerber, sie übertrumpfen. Sie suchen die Herausforderung, gehen nie den Weg des geringsten Widerstandes. Und im Fall von Familienunternehmen muss natürlich auch die Fähigkeit hinzukommen, das Unternehmen erfolgreich an die nächste Generation zu übergeben.
Zunächst eine grundlegende Frage: Wie entsteht überhaupt ein so großes Familienunternehmen wie diejenigen, die wir in "Deutschlands große Clans" sehen?
Jedes Unternehmen beginnt mit einer Geschäftsidee. Und jedes große Unternehmen hat einmal klein angefangen, meist indem eine Familie ein kleines Geschäft gründet, oft Mann und Frau beziehungsweise Vater und Mutter gemeinsam. Gerade in der Anfangsphase braucht es eine gewisse Selbstausbeutung der ganzen Familie. Ist die Geschäftsidee gut, muss sich die Logik des Kleinunternehmens dann irgendwann wandeln. Etwa indem nach einigen Jahren ein Familienmitglied sagt: Das, was hier einmal funktioniert, können wir auch 10 Mal, 100 Mal, 1000 Mal machen. Große Unternehmensgeschichten beginnen oft damit, dass eine gute Idee multipliziert wird und ein Produkt in standardisierter Form hergestellt werden kann.
Warum bleiben die einen Familienunternehmen, und die anderen gehen an die Börse?
Das ist eine Glaubensfrage, eine Entscheidung darüber, wie man ein Unternehmen führen und was man erreichen möchte. Geht man an den Kapitalmarkt, unterwirft man sich auch dessen Gesetzen – und die lauten: Du musst in kurzer Frist den Wert deines Unternehmens sichtbar steigern, und du musst möglichst hohe Dividenden auszahlen. Diese Logik ist eine kurzfristige. Keine, die für Menschen gemacht ist, sondern für Aktionäre. Und die führt unweigerlich zum angelsächsischen Shareholder-Kapitalismus. Wenn ich als Unternehmer aber langfristig denke und nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Interessen meiner Mitarbeiter oder meiner Heimatregion beachten möchte, dann braucht es die Form des Familienunternehmens. Das sind keine schlechteren Unternehmen: Im Idealfall ist ein gut geführtes Familienunternehmen eines, das kapitalmarktfähig ist. Das heißt, dass es so gut ist, dass es jederzeit an den Kapitalmarkt gehen könnte – gleichzeitig aber vom Kapitalmarkt unabhängig bleibt.
Heißt das, die langfristige Perspektive ist einer der größten Vorteile eines Familienunternehmens gegenüber einer nicht-familiär geführten Firma?
Ja, die Freiheit, langfristig zu denken, ist die große Stärke von Familienunternehmen. Eine Familie kann entscheiden, sich nicht den kurzfristigen, in Quartalszyklen denkenden Gesetzen des Kapitalmarktes zu unterwerfen, sondern die eigene unternehmerische Idee völlig frei von Einflüssen anderer zu realisieren. Diese Langfristigkeit ist für alle Beteiligten vorteilhaft: für das Unternehmen, für die Mitarbeiter und für die Kunden.
Wenn Sie vom angelsächsischen Kapitalismus sprechen: Gibt es auch eine typisch deutsche Ökonomie, vielleicht gerade auch in Bezug auf Familienunternehmen?
Ich nenne das den Familienkapitalismus. Denn in der Tat haben wir in Deutschland mit dem Familienunternehmen eine besondere Form des Kapitalismus geschaffen. Dieser ist erstens ökonomisch erfolgreich – ohne Erfolg könnte das Unternehmen nicht überleben –, und zweitens ist er sozial verantwortlich. In Familienunternehmen spielt viel mehr der Gedanke eine Rolle: Wir machen das nicht nur für den wirtschaftlichen Erfolg unserer eigenen Familie, sondern auch, um den Mitarbeitern ein gutes Leben zu ermöglichen, der sogenannten Betriebsfamilie. Das ist Teil der Unternehmerverantwortung, so wie sie im Grundgesetz steht: Eigentum berechtigt, es verpflichtet aber auch zum Wohle der Allgemeinheit. Zu guter Letzt haben Familienunternehmen sehr oft auch eine große Bedeutung für ihre Region. Wenn Sie in die Provinz kommen und sehen, dass ein kleiner Ort in Wohlstand lebt, es den Menschen dort gut geht, hängt das oft mit einem dort ansässigen Familienunternehmen zusammen. Denn auch der Unternehmer möchte dort, wo er lebt, gut leben. Deshalb sponsert er den örtlichen Fußballverein oder baut ein Museum. Und das ist keine Einbahnstraße, sondern beruht auf Gegenseitigkeit: Der Unternehmer gibt den Mitarbeitern soziale Sicherheit, die Mitarbeiter wiederum geben dem Unternehmer eine bessere Leistung durch eine höhere Identifikation. So entsteht eine echte Win-Win-Situation, die Verbindung von Eigennutz und Gemeinnutz in ihrer vorbildlichsten Form. Aber wir müssen sehr genau aufpassen, dass dieser Familienkapitalismus im globalen Wettbewerb gegenüber dem angelsächsischen Shareholder-Kapitalismus nicht ins Hintertreffen gerät.
Wie sieht heute Unternehmensführung in Familienunternehmen aus?
Das Führungsverständnis hat sich gewandelt, auch in Familienunternehmen. Im postbürgerlichen Zeitalter folgen die Menschen nicht mehr stur einer Autorität, sondern sie suchen nach Sinn und Einbeziehung. Deshalb ist der Teamleader der neue Führungstyp, der in der Wirtschaft erfolgreich ist. Also derjenige, der zwar immer noch führt, dies aber unter Einbeziehung der anderen tut. Die Zeit der Patriarchen ist vorbei.
Sie haben vorhin die Nachfolgeregelung angesprochen. Diese führt beiFamilienunternehmen immer wieder zu Konflikten. Können Sie dies näher erläutern?
Neben den Konflikten, die entstehen, wenn ein Unternehmer zu lange an seiner Chefrolle festhält, sind es vor allem die Verteilungskonflikte, die zu Stress führen. Denn in jedem größeren Familienunternehmen gilt es bei der Nachfolge eine Grundsatzentscheidung zu treffen: Verteile ich das Erbe gleichmäßig zwischen meinen Kindern oder bevorzuge ich eines von ihnen?
Hat sich die Nachfolgeregelung im Lauf der Zeit geändert?
Früher war es fast immer der älteste Sohn, dem man alles oder zumindest mehr gegeben hat und der für die Führung in Frage kam. Es gab das sogenannte Thronfolgerprinzip. Heute hingegen ist Gleichverteilung üblich. Zudem müssen wir uns die Emanzipationsgeschichte vergegenwärtigen. Vor rund 100 Jahren war es noch weitgehend unüblich, dass Frauen in Familienunternehmen Gesellschaftsanteile erwerben durften, und wenn, dann bekamen sie in jedem Fall weniger Anteile als die Söhne. Selbst Väter, die keine Söhne hatten, dachten bei der Nachfolge weniger an die Töchter als daran, dass sie einen für die Unternehmensführung geeigneten Schwiegersohn beibrachten. Heute dagegen ist es völlig normal, dass die Töchter zum einen die gleichen Anteile erwerben dürfen, und zum anderen genauso für die Unternehmensführung in Frage kommen wie die Söhne. Aber wir müssen bestimmte Verhaltensweisen immer in dem zeitlichen und kulturellen Kontext sehen, in dem sie stattgefunden haben.
Welchen Anteil hatten Frauen in früheren Zeiten am Erfolg von Familienunternehmen?
Tatsächlich hatten Frauen schon immer einen maßgeblichen Anteil am Unternehmenserfolg. "Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau", lautet ein oft zitiertes Bonmot. Aber es war eben lange Zeit so, dass die Frauen eher im Hintergrund agierten und ihren Mann unterstützten. Wobei es nicht selten vorkam, dass die Stützende sogar stärker war als derjenige, der gestützt wurde. Das merkte man etwa dann, wenn der Mann unerwartet verstarb und die Frau die Führung des Unternehmens übernahm. Und das oft nicht schlechter gemacht hat als der ohnehin schon erfolgreiche Mann. Früher übernahm die Frau das Geschäft allerdings in der Regel nur solange, bis die Söhne sie ablösten – wie es auch bei Maria Mülhens und 4711 der Fall war oder bei Gertrud Riegel, die 1945 die Leitung von HARIBO übernahm, als ihr Mann früh verstarb und die Söhne Hans und Paul noch im Krieg waren. Heute sind Frauen, die nach dem Tod auch langfristig erfolgreich unternehmerische Verantwortung übernehmen, längst keine "Platzhalter" mehr. Erfolgreiche Unternehmerinnen wie Maria-Elisabeth Schaeffler, Alexandra Schörghuber oder Waltraud Lenhart von LEKI beweisen das.
Welcher Druck besteht in Familienunternehmen auf die Nachfolgegeneration, das Ruder zu übernehmen?
Heutzutage werden Kinder und Unternehmenserben in der Regel zu nichts mehr gedrängt. Früher aber war das anders. Da war Nachfolge für Unternehmerkinder in der Regel ein Muss. Mit fatalen Folgen: Das Ergebnis war oft ein Scheitern – entweder als Unternehmer, weil man nicht gut genug war, oder als Mensch, weil man etwas ganz anderes wollte und ein Leben lang unglücklich blieb. Fälle wie der von Arndt von Bohlen und Halbach, der der Tradition folgend Nachfolger und Alleinerbe von Krupp werden sollte und schließlich zum Erbverzicht gedrängt wurde, sind dann medienwirksame Beispiele dafür, was passiert, wenn Kinder von Geburt an in Rollen gepresst werden, die sie nicht ausfüllen können oder wollen. Ein anderes Beispiel ist Rolf Gerling, der den von seinem Vater übernommenen Versicherungskonzern schlussendlich verkaufen musste, weil er für die Unternehmerrolle ungeeignet war. Es ist eben beileibe nicht selbstverständlich, dass sich die Genialität des Unternehmers auf die nächste Generation vererbt. Wie sagt man so schön: "Unter einer großen Eiche wachsen nur Pilze". Und es ist ein Glücksfall, wenn – wie im Falle Deichmann – neben einer großen Eiche eine neue große Eiche gedeihen kann.
Wie sind Konflikte um die Nachfolge in Unternehmerfamilien einzuordnen?
Es gibt einen ganz wichtigen Satz für Familienunternehmen, die langfristig bestehen wollen. Dieser Satz findet sich im Büro des Miele-Gründers Carl Miele und lautet: "Friede ernährt, Unfriede verzehrt". Streit gilt als einer der größten Werte-Vernichter im Familienunternehmen; er vernichtet ökonomisches und menschliches Kapital gleichermaßen. Wer genug Demut und Disziplin aufbringt, um auch in Konfliktsituationen wieder zueinander zu finden, hat eine gemeinsame Zukunft. Für die anderen bleibt – wie auch das Beispiel 4711 und Mülhens so traurig belegt – am Ende oft nur der Verkauf. Und damit das Ende des Familienunternehmens.