ZDF: Aktuell wird vielfach über die Gefährdung der Demokratie und über das Nachlassen der politischen Bindekräfte diskutiert – nicht zuletzt auch infolge des Überhandnehmens von Fake News in den Sozialen Medien. Inwiefern kann so eine umfassende Doku-Reihe dazu beitragen, erneut in Erinnerung zu rufen, was die deutsche Geschichte zu Demokratiegefährdung, zu Rassismus und Entrechtung bereits für Erkenntnisse bietet?
Thomas Schuhbauer: Zwei Tendenzen sollten uns beunruhigen: Laut einer ZDF-Umfrage würden 28 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit ziehen. Gleichzeitig erleben wir in der jetzigen Krise einen gefährlichen Vertrauensverlust in demokratische Institutionen. Die Reihe zeigt: Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, den deutschen Weg in den Abgrund zu verhindern. Doch die damalige Demokratie hatte zu wenige Abwehrkräfte, und das gefährliche Potenzial populistischer Bewegungen in den 1920er Jahren wurde unterschätzt.
Der Holocaust begann mit kleinen Schritten, die ihr Echo in den Ressentiments vieler Deutschen fanden. Wir wissen, dass Antisemitismus, Rassismus und Eugenik – all diese "Lehren" von der Minderwertigkeit bestimmter Menschen – damals auch in anderen Ländern stark verbreitet waren. Unser Ziel war es daher, schonungslos zu analysieren, warum ausgerechnet in Deutschland dieses Menschheitsverbrechen, der Holocaust, erdacht und ausgeführt werden konnte.
ZDF: Was waren die größten Herausforderungen, um dieses Doku-Projekt zu realisieren, das über mehr als sieben Stunden von den Anfängen 1918 den Weg in den deutschen Abgrund an beleuchtet, dabei aber nicht 1945 endet, sondern auch die Nachkriegsjahre bis 1948 miteinbezieht?
Thomas Schuhbauer: Die Forschung zu diesem Gebiet füllt ganze Bibliotheken. Gerade in den vergangenen Jahren sind viele neue Quellen erschlossen und neue Fragen gestellt worden. Hier auf dem neuesten Stand zu sein und von der Vogelperspektive immer wieder einzutauchen in Lebensgeschichten und entscheidende Ereignisse, ist einerseits herausfordernd, andererseits eine unglaubliche Chance, eine Gesamtschau zu schaffen, die den Weg in den Abgrund aus einer Vielzahl von Perspektiven erzählt – Anhänger und Gegner des NS, internationale Beobachter, jüdische und nicht-jüdische Deutsche, Opfer und Täter.
Wir waren uns deshalb einig, auf Zeitzeugen zu verzichten und stattdessen Originaldokumente der Zeit – Tagebücher, Briefe, Fotos, Filme – zum Sprechen zu bringen, um den Geist der Zeit einzufangen. Und wir wollen erzählen, welche Konsequenzen die Welt aus dem Desaster zog. Denn als der Krieg aus war und Hitler tot, war mit ihm der Antisemitismus nicht gestorben, was sich leider in jüngster Zeit auch in Deutschland immer wieder zeigt.
ZDF: Welche seltenen, zum Teil neu entdeckten Film- und Fotoaufnahmen bietet die Doku-Reihe denn? Und wie sind Ihre Autorinnen und Autoren fündig geworden?
Thomas Schuhbauer: Es waren Tipps von Sammlern und Experten, die zum Fund etwa eines Amateurfilms führten, den niederländische Juden in Amsterdam während der deutschen Besatzung in ihrem Versteck gedreht haben. Es waren aber auch monatelange Recherchen in mehr als einhundert Archiven weltweit. Wir konnten vor kurzem entdeckte Fotos aus dem KZ Sobibor und Privatfilme eines Kleinunternehmers aus Bremen nutzen, der aus einer jüdischen Familie stammte.
Wir bekamen Zugriff auf seltene Glasnegative aus Hitlers Zeit in München in den 1920er Jahren und frühen 1930er Jahren. Wir haben die Fragebögen neu ausgewertet, die das Frankfurter Institut für Sozialforschung Anfang der 30er Jahre unter hunderten von Arbeitern und Angestellten verteilen ließ. Und wir sind auf die unglaubliche Geschichte des Journalisten Leo Lania gestoßen, der sich 1923 unter falschen Namen in der Redaktion der NS-Zeitung "Völkischer Beobachter" einschleuste und aus erster Hand vom geplanten Hitlerputsch erfuhr.
ZDF: 40 hochkarätige Experten wie Richard J. Evans, Mary Fulbrook, Peter Longerich, Moshe Zimmermann, Alexandra Richie und Götz Aly kommen in der Doku zu Wort. Zeigt sich daran die internationale Ausrichtung der Produktion oder ist dies vor allem dem inhaltlichen Ansatz geschuldet, einen umfassenden Blick auf die Geschichte zwischen 1918 und 1948 zu ermöglichen?
Thomas Schuhbauer: Von Beginn an wollten wir international erzählen – sowohl mit Expertinnen und Experten, die die ganze Bandbreite der Forschung abdecken, als auch mit Autorinnen und Autoren wie Martin Davidson, einem ehemaligen BBC-Redakteur, der zwei der Filme verantwortet. Denn der internationale Blick hilft, Deutschlands Entwicklung mit der anderer Länder zu vergleichen und sie einzubetten in demokratiefeindliche und rassistische Tendenzen, die damals in vielen Ländern zu beobachten waren. Dafür stehen gerade die beteiligten Historikerinnen und Historiker.
Was mich persönlich bewegt ist, dass mein Doktorvater, der Faschismusforscher Wolfgang Wippermann, die Reihe nicht mehr sehen kann. Leider ist er im Januar dieses Jahres gestorben.
ZDF: Wenn Sie es auf einen Satz bringen müssten, was diese zehnteilige Doku für einen Info-Mehrwert bietet, was würden Sie sagen?
Thomas Schuhbauer: Geschichte kann uns eine Warnung sein.
Interview: Thomas Hagedorn