Falls in, sagen wir, tausend Jahren jemand auf die Idee kommt, einen Film über das Alltagsleben im Jahr 2016 zu machen, woher wird er sein Wissen beziehen? Großereignisse, die politische Lage, Kriege und Krisen werden dokumentiert sein. Aber unser Alltag mit seinen unzähligen Details?
Es mag Anhaltspunkte geben, möglicherweise wird man bei Ausgrabungen auf gigantische Flächen stoßen und vermuten, dass es sich um heilige Orte gehandelt haben muss, zu denen die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts zu Zehntausenden gepilgert sind - also Baumärkte, Fußballarenen oder Parkplätze eben. Aber sonst? Wesentliche Herausforderung bei der Rekonstruktion der Alltagsgeschichte des 21. Jahrhunderts wird sein, dass viele Informationen gar nicht mehr verfügbar sind, weil sie mehr und mehr digital gespeichert werden. Ein Medium, das flüchtiger ist, als die meisten archäologischen Funde älterer Herkunft. So hat jede Epoche ihre Herausforderungen.
Regularien und Akten als Recherchequelle
Nehmen wir das Alte Rom, in dem die erste Folge der "Terra X"-Reihe spielt. Das Klischee von der "ewigen Stadt" mit ihren Prunkbauten aus Marmor und Stein prägt unser Bild. So nehmen wir Rom Dank der modernen Archäologie, den Sandalenfilmen Hollywoods oder den "Asterix & Obelix"-Comics und natürlich Dank der Bildungsreisen unserer Tage wahr. Dabei lebten die normalen Römer natürlich weder im Kolosseum noch im Pantheon, sondern an Orten, die heute nicht mehr existieren. Wie die aussehen, haben Forscher mithilfe der experimentellen Archäologie rekonstruiert: Sie bauten römische Lehmziegelöfen nach und schlossen so auf das Bauprinzip der Mietskasernen, den Insulae.
Ein Tag im alten Rom
Wie dann tatsächlich gebaut wurde, zeigen Brandschutzvorschriften und Gerichtsakten. Sie zeigen, dass Baupfusch regierte. Allzu oft verbauten Hausbesitzer und Mietspekulanten billiges Fachwerk und Holz, errichteten die Hochhäuser dicht an dicht. So entstand das Bild einer Stadt, die weniger durch Prachtbauten, als durch wild wuchernde, enge Mietskasernen-Viertel geprägt wurde.
Das ist die Lebenswelt des Feuerwehrmannes Pompeius Quintus Naso, der einen Tag im Jahre 80 begleitet wird. Die überlieferten Regularien der römischen Feuerwehr erlauben einen genauen Blick auf Kleidung, technische Ausstattung und Lebensweise. Was hat ein Feuerwehrmann gegessen (Brot, Wein, Gemüse, aber nur wenig Fleisch), wie hat er geredet (Vulgärlatein, dem heutigen Rumänisch nicht unähnlich), wo eingekauft (auf der Straße) oder die Toilette benutzt (auf öffentlichen Latrinen). Das alles wissen wir unter anderem wegen einer Naturkatastrophe von historischem Ausmaß. Beim Ausbruch des Vesuvs 79 nach Christus wurde das Alltagsleben der umliegenden Städte durch den rasend schnellen, heißen Aschestrom schockartig konserviert. In den erhaltenen Abwasserbecken fanden die Wissenschaftler vom weggeworfenen Ehering bis zu entsorgten Brotlaiben viele Details des römischen Lebens. Forscher wissen ziemlich genau, wie es in einer römischen Straße zuging, kennen die Lage der einzelnen Geschäfte, den täglichen Krawall um die subventionierten Brotrationen und die teils qualvolle Enge in den damals wie heute vielerorts maßlos überteuerten Wohnungen.
Kuriositäten des Alltags
Das mittelalterliche Frankfurt wurde durch Kriege zerstört und mit ihm die meisten der ohnehin nicht besonders zahlreichen schriftlichen Quellen. Aber: Die wenigen erhaltenen Dokumente sind erstaunlich genau, auch, weil wegen des verbreiteten Analphabetismus viel gezeichnet und gemalt wurde. So gelang es dem Stadtmuseum Trier für seine sehgeschädigten Besucher eine sogenannte Schandmaske nachzubauen, deren metallische Form sich besonders gut ertasten lässt. Schandmasken waren Teil eines ausgeklügelten Strafenkatalogs im Mittelalter. Wesentliches Prinzip der Bestrafungen war, einen Menschen zu entehren, in dem man ihn und seine Verfehlung öffentlich vorführte.
Ein Tag im Mittelalter
Der Pranger ist die bekannteste Methode, von Schandmasken wissen wir erst seit kurzem. Ein Trinker musste mitunter tagelang mit einer schweren, eisernen Schweinekopf-Maske herumlaufen. Lästermäuler bekamen eine Fratze aus Metall mit einer extra langen Zunge übergestülpt. Die Trierer Forscher stellten uns ihre wertvollen Stücke für unsere Dreharbeiten zur Verfügung. Erstaunlich, wie viele Spezialmuseen und Sammler in Deutschland die historischen Kuriositäten des Alltags bewahren und ihre Geschichte dokumentieren. Um die Ausrüstung unserer Hauptfigur, des Wundarztes Jakob Althaus, zu rekonstruieren, fanden wir Fachberatung bei einem Privatgelehrten, der auf Grundlage historischer Texte und Zeichnungen mittelalterliches Operationsbesteck originalgetreu nachgebaut hat – auch das kommt im Film über Frankfurt zum Einsatz.
Originale aus der Zeit im Film
Besser dokumentiert ist das Leben in Berlin zur Zeit Kaiser Wilhelms. Dafür sorgen unter anderem Fotografien, die ein gewisser Heinrich Zille um die Jahrhundertwende angefertigt hat. Hingeworfen wie Schnappschüsse, haben sie als solide Glasnegative in der „Berlinischen Galerie“ überdauert. Sie zeigen das Berlin der Brandmauern, Jahrmärkte und Bretterbuden. Das „Miljöh“ der Kohlenhändler, Ringvereine und Prostituierten.
Neben diesen Bilddokumenten haben erstaunlich viele Bauten, aber auch herrliche Einzelfundstücke die Zeitläufe überstanden. Vom Dentalmuseum Grimma wissen wir beispielsweise, dass das Dienstmädchen Minna Eschler ihre Zähne zwar wie wir heute mit einer Bürste putzte, allerdings bestand diese seinerzeit aus Knochen und Tierborsten und musste mindestens zehn Jahre halten. Für die Dreharbeiten stellte uns der Museumsbetreiber ein Original aus der Zeit zur Verfügung.
Den ersten Kaffee des Tages brühte das Dienstmädchen nicht für sich selbst, sondern für die Herrschaft auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts eroberten Elektrogeräte zunehmend die Haushalte derer, die es sich leisten konnten. Welche Geräte damals bereits erhältlich waren, ließ sich in den alten Dokumenten von AEG, Siemens und Co schnell herausfinden. Doch die Beschaffung von Originalstücken für die Dreharbeiten war umso schwieriger. Schließlich sprechen wir hier von den ersten Elektrogeräten der Geschichte. Das Energie-Museum Berlin, das von unserem Projekt begeistert war, stellte uns schließlich unter anderem eine der ersten elektrischen Kaffeemaschinen der Welt zur Verfügung.
Stimmige Details in glaubwürdiger Kulisse
Im Berliner Bezirk Pankow, einst Speckgürtel und Wohnort der reichen Industrie-Elite, bewahrten und rekonstruierten Denkmalpfleger und Historiker eine repräsentative Stadtwohnung der Gründerzeit bis hin zum originalgetreuen Türgriff aus Messing. Für uns Vorlage für die szenischen Dreharbeiten im historischen Gutshaus Prebberede, das – ein Glücksfall – exakt aus unserer Zeit stammt, das allerdings vom rustikalen Landsitz zur pompösen Stadtwohnung umgestaltet werden musste.
Ein Tag in der Kaiserzeit
Eine Serie, in der die Details stimmen, braucht auch eine glaubwürdige und eindrucksvolle Kulisse. Deshalb fanden die szenischen Dreharbeiten in Ermangelung von heute noch erhaltenen Originalschauplätzen zu weiten Teilen in den Filmstudios Babelsberg und Sofia statt. Mit einer Ausnahme: Wer drehen will, wie eng die Lebensverhältnisse im Mittelalter waren, reist am besten in den Harz, wo die Bausubstanz und Architektur der Häuser nahezu unverändert ist. Die freundliche Stadtverwaltung und Bürger von Stolberg unterstützten uns bei unseren Dreharbeiten – so wie zahlreiche Wissenschaftler, Fachberater und auch Privatpersonen, ohne deren Hilfe das große Unterfangen, den Alltag verschiedener historischer Epochen für Terra X erlebbar zu machen, nicht möglich gewesen wäre.