Obwohl bereits neun verheerende Plagen das Nilland verwüstet haben, zeigt sich der Pharao weiterhin verstockt und will Moses mit seinen Leuten nicht freigeben. Da holt Gott Jahwe zum finalen Schlag aus: Um Mitternacht schickt er den Tod über Ägypten. Alle Erstgeborenen - ob Mensch oder Tier - müssen sterben. Erst jetzt dürfen die Israeliten das Land verlassen.
Damit die Israeliten verschont werden, sollen sie mit dem Blut eines geschlachteten Lammes die Türpfosten ihrer Häuser bestreichen, das Fleisch bis auf den letzten Rest mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern verzehren und sich fertig angekleidet zum Aufbruch bereit halten. Und tatsächlich lässt der Herrscher nach der unvorstellbaren Tragödie, die sein Volk getroffen hat, die Fremdarbeiter endlich ziehen.
Geburtsstunde Israels
Mit der drastischen Schilderung der zehnten und schlimmsten Strafe endet die Kette der Plagen im 2. Buch Moses.Der Tod der Erstgeborenen passt nicht in den Rahmen der vorangegangenen Naturkatastrophen. Fast alle naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche wie die Verseuchung des Getreides durch Schimmelpilze bleiben unbefriedigend, weil keine These überzeugend belegt, warum nur die Ältesten der Heimsuchung Gottes zum Opfer fallen. Vielmehr sehen Forscher in der Episode ein religiöses Symbol: Die Erstgeburt alles Bösen soll mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden - eine Floskel, die auch im Nilland seit alters her bekannt war. Die genauen Anweisungen zum nächtlichen Passah-Mahl führen Experten auf uralte Traditionen von Bauern und Nomanden zurück. Denn aus diesen beiden Gruppen wächst Israel schließlich zusammen. Noch heute feiern die Juden das Passah-Fest in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und die Befreiung aus der Knechtschaft als Geburtsstunde ihres Volkes.
Allein 600.000 Männer, ohne Frauen und Kinder, führte Moses laut Bibel durch die Wüste. Eine utopische Zahl, wie die moderne Wissenschaft festgestellt hat. Die überhöhte Angabe beruht auf falscher Deutung der alten hebräischen Zahlen, vermutlich folgten etwa sechstausend Menschen dem von Jahwe erwählten Anführer. Die Frage, ob "der Exodus" überhaupt als historisches Großereignis zu werten ist, diskutieren Fachleute nach wie vor kontrovers.
Keine archäologischen Funde
Auf dem gesamten, intensiv erforschten Sinai, den die Wanderer auf dem Weg ins Gelobte Land durchqueren mussten, fanden Archäologen weder Grabmäler noch Scherben, die auf die Auswanderer schließen ließen. Aber ägyptische Papyri, Tempelreliefs und Inschriften dokumentieren die regelmäßige Anwesenheit von Ausländern im Nilland. Immer wieder holten die Pharaonen Arbeiter, Handwerker und Kriegsgefangene ins Land oder gewährten nicht sesshaften Stämmen mit ihren Herden vorübergehend Asyl.
Einige der so genannten "Asiaten" wie Ramesses-em-per-re, Inspektor in den Kupferminen von Timna und womöglich Vorbild für die Moses-Figur, machten sogar Karriere am ägyptischen Hof. Die Könige pflegten auch regen Kontakt zum Nachbarland Kanaan. Dort machten vor allem die bäuerlichen Apiru, später "Hebräer" genannt, und die Schasu-Nomaden von sich reden. Nachweislich lebten Angehörige beider Gruppen zeitweise am Nil. Doch wenn die Gefahr der Überfremdung stieg, reagierten die Herrscher mit Ausweisung.
Spektakuläre Vertreibung
Die spektakulärste Vertreibungsaktion machte Pharao Ahmose I. berühmt: 1532 vor Christus konnte er die Hyksos, die "Herrscher der Fremdländer" endgültig aus dem Reich jagen. Als Eroberer oder Einwanderer, wie neueste Erkenntnisse besagen, hatten sie im Deltagebiet zunächst eine lokale Dynastie errichtet und später die Macht über ganz Ägypten übernommen. Ihre Metropole Auaris bauten sie zum reichen Wirtschafts- und Handelszentrum aus.
Die Herkunft der Fremdherrscher aus Kanaan, ihre ersten Ansätze zum Monotheismus, ausgegrabene Siegel mit den Namen Abraham, Isaak, Sarah und Jakob sowie andere archäologische Spuren lassen vermuten, dass Facetten aus der Geschichte der Hyksos in den biblischen Bericht vom Exodus eingeflossen sind. Nach dem Feldzug des Ahmose wird Kanaan bald ägyptische Provinz. 1208 vor Christus erwähnt Pharao Merenptah auf seiner Siegesstele zum ersten Mal den Namen Israel als Volk oder Stamm aus dem Bergland Kanaans: "Israel liegt brach und hat keinen Samen mehr." Das heißt, in jener Zeit existierte bereits eine Gruppe dieses Namens außerhalb von Ägypten.
Großer Exodus unwahrscheinlich
Aus zahllosen Puzzleteilen gewinnen Wissenschaftler ein Bild über den historischen Hintergrund der Moses-Geschichte. Und aus ebenso vielen Bruchstücken aus unterschiedlichen Epochen bauten die Autoren des Alten Testaments ihren Text Jahrhunderte nach dem wahrscheinlichen Geschehen zusammen. Viele Details finden ihre Entsprechung in ägyptischen Quellen, einiges aber bleibt unbewiesen.
Im Zentrum des biblischen Berichts jedoch steht die Botschaft von Jahwe, die zur ersten monotheistischen Weltreligion wurde. Den einen großen Exodus aus Ägypten gab es sicher nicht. Doch dass verschiedene Gruppen aus Kanaan zu verschiedenen Zeiten in Ägypten lebten und von dort entweder vertrieben wurden oder flohen, daran lässt die Forschung keinen Zweifel.