Höher, schneller, weiter – zu kaum einer anderen Nation passt das olympische Motto besser als zu Südkorea. „Palli palli“ – „schnell, schnell“ ist hier ein geflügeltes Wort. Gleichzeitig erzählt es viel über das Land und die Menschen, die in ihm leben. Einblicke in eine Gesellschaft der Getriebenen.
Pauken bis zum Umfallen
Verstecken spielen, schaukeln, lachen und einfach eine gute Zeit haben: Die ersten Schuljahre sind oft die besten überhaupt. In Südkorea geht Kindsein anders. Von klein an ist der Wettbewerb in allen Lebenslagen allgegenwärtig. Schon Grundschüler sind gefangen im Hamsterrad. Und weil die reguläre Schule sie gefühlt nicht ausreichend auf den harten Konkurrenzkampf vorbereitet, pauken schon Siebenjährige zusätzlich in speziellen Instituten bis spät in die Nacht.
Wer seinem Kind das nicht antun möchte, riskiert, dass es in der Schule abgehängt wird - denn die Lehrer gehen davon aus, dass jedes Kind nachmittags noch Zusatzunterricht nimmt.
Im letzten Schuljahr lernen die jungen Koreaner in der Regel bis tief in die Nacht hinein - sieben Tage in der Woche. Nur wer ein perfektes Abitur hinlegt, kann darauf hoffen, an einer der besten Universitäten angenommen zu werden. In Vergleichsstudien liegt das Land regelmäßig in der Spitzengruppe. Doch die koreanischen Schüler sind auch mit Abstand die unglücklichsten.
K-Pop: Karriere vom Reißbrett
Mit ihren roten Blazern stechen sie sofort ins Auge, und doch sind sie nur ein paar Wenige unter Vielen: Die fünf Mädels der K-Pop-Band "SUPA“ legen sich auf der Bühne einer Einkaufsmall mächtig ins Zeug. Sie singen live, die Töne sitzen, die Melodie hat Ohrwurmpotential.
Das Ziel ist klar: "Ich möchte berühmt werden und um die Welt reisen", erzählt uns Jung Dajung: "Wenn uns die Leute auf der Straße erkennen würden, wäre das wirklich toll!" Auf ihrem Weg zum großen Traum wollen die 14-Jährigen nichts dem Zufall überlassen. Seit mehr als sechs Jahren schon bereiten sie sich akribisch auf die Karriere vor und üben täglich nach der Schule mindestens drei Stunden. Gesang, Choreographie, Ausdruck – alles muss stimmen.
Denn wer es hier auf den kleinen Bühnen der Malls nicht schafft, genügend Laufkundschaft zum Zuhören zu animieren, wird ganz schnell aussortiert – die Konkurrenz in der K-Pop-Maschinerie ist riesig. Für SUPA läuft es heute gut, vor der Bühne drängen sich die Menschenmassen. Ihr Publikum besteht vorwiegend aus ziemlich jungen Mädchen – und einigen sehr viel älteren Männern, die ungeniert Aufnahmen von den Mädchen in den knappen Kostümen machen. Ob es den Mädchen etwas ausmacht, fragt an diesem Tag keiner – auf dem Weg zum Erfolg darf man eben nicht zimperlich sein.
Keine Arbeit, kein Brot!
In Südkorea sagt man: "Keine Arbeit, kein Brot!" Und wer das einmal gehört hat, versteht schon, was das Land antreibt, das scheinbar niemals schläft - einfach, weil es permanent arbeitet.
Und so beginnt das Rad des südkoreanischen Hamsterlebens früh. Die Menschen arbeiten am Anfang ihres Berufslebens lange, damit der Chef sie wahrnimmt und sie eine Chance auf Erfolg haben. Dann haben sie Erfolg und arbeiten lange, damit das so bleibt und sie ihren Kindern die Nachhilfe bezahlen können, die dem Nachwuchs den Weg zum Erfolg ebnen soll.
Und wer dann erfolgreich ist, muss wiederum lange bleiben, um seinen Mitarbeitern vorzuleben, dass lange Arbeitszeiten normal sind und nicht nur das Büroleben sondern auch das Nachtleben dazu gehört. Der Druck ist enorm. Und wer sich in die U-Bahn in Seoul stellt, kann ihn spüren, den Druck – und kann das Rad sehen.
Shoppen bis zum Sonnenaufgang
24 Stunden sind nicht genug für einen Tag in Südkorea. Denn wer arbeitet, der hat keine Zeit zum Shoppen. Das wäre zumindest in den meisten europäischen Ländern so. In Südkorea ist das anders. Wer erst nach Mitternacht Feierabend hat, muss dennoch nicht auf die neue Handtasche verzichten: Die letzten Malls schließen erst um 5 Uhr morgens. Ein Traum! Aber nur für diejenigen, die gerne durch die Einkaufsmeilen streifen.
Für das Personal ist es eher ein Alptraum: "Ich sehen meinen Mann einmal die Woche", erzählt uns Lee Kyeong-a. Sie ist Verkäuferin, ihre Schicht beginnt täglich um 21 Uhr: "Er arbeitet eben tagsüber. Wenn ich um 5 Uhr morgens nach Hause gehe, steht er schon wieder auf, weil er dann los muss." Das Hamsterrad ist allgegenwärtig. Es lauert hinter jeder kleinen Dienstleistung, dem Luxus, dem Komfort. Und es droht, die Menschen langfristig zu verschlingen: Südkorea hat die höchste Selbstmordrate der Welt.
Mit dem Chef ins Rotlichtviertel
Das Berufsleben in Südkorea bringt gerne und oft 70 Stunden oder mehr pro Woche auf die Uhr. Um 5 Uhr aus den Federn, um Mitternacht todmüde ins Bett – Alltag für viele Koreaner. Einmal in der Woche wird sich dann amüsiert, ganz nach Plan: Jeden Donnerstag bittet der Chef traditionell zur "Abendgestaltung". Ablehnen kann das im streng hierarchisch gegliederten Korea niemand.
Auch wenn vielen Angestellten ein freier Abend wohl lieber wäre, erzählen sie – im Beisein des Vorgesetzten – wie sehr sie das Ritual schätzen: "Ich habe zwar eine Familie und ein Baby, aber der Abend heute ist einfach nur für mich da," sagt Lee Kyeung-gyu, der im Finanzsektor arbeitet: "Ich genieße das und kann dabei den Stress der Arbeitswoche abbauen. Das geht zu Hause nicht."
Es dürfte wohl auch eine Art Stressbewältigung sein, die mit leichten Variationen immer nach demselben Schema abläuft. Runde 1: Dinner, Runde 2: Alkohol, Runde 3: Rotlichtviertel.
Wenn Sex alles ist, was bleibt
Immer auf Vollgas, um nur den Anschluss nicht zu verlieren – wer das nicht beherzigt, geht in Korea gnadenlos unter. Schwache haben keine Lobby. Und so ist eine ganze Generation aufs Abstellgleis geraten. Wer heute in Korea alt ist, den trifft es besonders hart. Nur jeder Dritte bekommt eine Altersrente vom Staat und diejenigen, die leer ausgehen, sind vor allem verwitwete Hausfrauen, die nie in die Rentenkasse einbezahlt haben. Laut Gesetz müssen in diesem Fall die erwachsenen Kinder für ihre Eltern aufkommen. Doch die hohen Lebenshaltungskosten machen auch der jungen Generation zu schaffen.
Oft reicht das Geld nicht, um einerseits der Großmutter ein würdevolles Leben zu ermöglichen und gleichzeitig dem Enkel die teuren Zusatzstunden in der Paukschule zu finanzieren. Was also tun? Wer in der Hektik des Alltags nur einen kurzen Moment innehält, der sieht den einzigen Ausweg, den viele dieser Frauen gefunden haben: Sie stehen in Parks und an Straßenecken, im Winter der Kälte wegen in den U-Bahnhöfen und auf warmen Abluftgittern. Die Handtasche unterm Arm dient als Zeichen, das Männern signalisiert: Hier werden Sexdienste angeboten.
Nicht wenige dieser sogenannten "Bacchus-Ladies" sind weit über Siebzig. Ihr einziges Verkaufsargument ist der Preis. Sie sind weit "günstiger" als die junge Konkurrenz. Sprechen will mit uns keine über ihren Job, zu groß ist die Scham. "Im Buddhismus steht die alte Frau traditionell für Weisheit und Würde", erzählt Prof. Lee Ho-sun, die sich seit einigen Jahren mit dem Phänomen beschäftigt: "Die Bacchus-Ladies werden aber als das genaue Gegenteil angesehen. Deshalb will keiner mit ihnen in Verbindung gebracht werden und es nimmt sich auch niemand der ganzen Problematik an."
High Life in der Rentnerdisco
Und auch das gibt es in Südkorea: "Wir sind alt und sollen deshalb brav zu Hause sitzen, aber darauf habe ich keine Lust!", sagt Seo Kwan-ok und reckt demonstrativ die Brust nach vorne. Der Mitt-Siebziger ist adrett gekleidet: Anzug, dunkles Hemd, Krawatte. Die Schuhe sind etwas abgetreten, aber makellos geputzt. Wir treffen ihn in einer Colatek – eine Art Disco für Rentner, von denen es in Seoul zahlreiche gibt. Der Eintritt ist günstig, das Essen auch und getanzt wird schon ab elf Uhr vormittags.
"Meine Kinder wissen nicht, dass ich Gast in Colateken bin. Und damit das so bleibt, gehe ich jeden Tag in eine andere", vertraut uns Seo Kwan-ok an. Warum er seiner Familie sein Hobby verheimlicht, kann er nicht genau erklären. Irgendwie, so meint er, hätten Colateken einen schlechten Ruf.
"Manche Leute kommen nur, um sich beim Tanz ganz nahe zu kommen", meint er noch, und hält dann verschämt inne. Was daran problematisch ist? "Vielleicht sind ja einige verheiratet." Herr Seo selbst ist natürlich ungebunden, wie er erzählt. Bilder von sich möchte er dennoch lieber nicht veröffentlicht sehen – der Kinder wegen. Mit diesem Wunsch steht Seo Kwan-ok nicht alleine da: Sobald sich der Tanzboden etwas besser füllt, sollen wir lieber keine Aufnahmen mehr machen. Sicher ist sicher.
Im Schatten der Spiele
Mi-hwa Choi dachte nicht im Traum daran, dass sie eines Tages Schwierigkeiten bekommen könnte, im Alter ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Mit dem, was sie auf ihren Feldern am Fuße des verschlafenen Bergs Gariwang anbaute, konnte die Bäuerin immer gut leben. Doch dann bekam Korea den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele und Mi-Hwa Chois Berg wurde zum perfekten Hang für die Abfahrtsstrecke auserkoren. Wiederstand war zwecklos. "Wir sind umgezogen, weil man uns gesagt hat, dass wir wegen der Olympischen Spiele nicht bleiben können," erinnert sie sich und blickt nachdenklich auf die letzten Vorbereitungen an der Talstation der eigens errichteten Gondel.
"Hier lagen meine Felder, jetzt ist alles verschwunden. Ein Stück meines Herzens ist blaugefleckt." Mi-hwa Choi und ihr Mann bekamen eine kleine Kompensation und ein Darlehen, mit dem sie in Sichtweite zu ihrem alten Zuhause ein neues, kleines Häuschen bauten. Entschädigt fühlt sie sich nicht: "Was wir bekommen haben, hat nicht gereicht, um damit woanders ein ähnliches Stück Land zu kaufen. Früher war überall um das Haus herum mein Spielplatz. Jetzt habe ich ein kleines, viereckiges Grundstück." Ein paar Gemüsebeete sind alles, was ihr geblieben ist.
Wo vorher Bäume und wilde Kräuter wuchsen, gibt es jetzt nichts mehr zu sehen - nur den neu angelegten Besucherparkplatz, den nach den Spielen niemand mehr brauchen wird. Denn an eine Weiternutzung des Hanges nach Olympia ist nicht zu denken: Es gibt dort nur die eine Abfahrt und die ist viel zu schwierig für den durchschnittlichen Freizeitsportler. "Ich frage mich, ob diese Gegend nach den Spielen wohl eine Geisterstadt bleiben wird", überlegt Mi-hwa Choi. Trotz allem sei sie gespannt auf die Spiele, sagt sie tapfer. Auf ihrer Jacke prangt der Schriftzug "Hello Pyeongchang". Dreimal musste sich ihr Land bewerben, bis es endlich geklappt hat: "Nun freue ich mich auf Olympia, aber ich habe ein bitteres Gefühl."
Größte Hoffnung Fußballplatz
Choi Hyun-jun hat alles verloren, was er besaß, und doch fühlt er sich reich. Der Nordkoreaner hat geschafft, was viele nie wagen und nur den Allerwenigsten gelingt: Die Flucht in den Süden.
Zwar hatte er als Nachrichtendienstler im Kim-Regime bereits einiges über Südkorea erfahren. Dennoch war die erste Zeit ein Kulturschock für ihn. Die Palli-Palli-Gesellschaft nimmt auf Neuankömmlinge keine Rücksicht und es ist leicht, dabei irgendwie auf der Strecke zu bleiben. Irgendwann wurde ihm klar, dass er sein Schicksal zumindest mit einer Hand voll anderen Leuten teilte: Ganz allein zu sein in einem Land, dessen Prinzipien ihnen völlig fremd sind.
Gemeinsames Fußballspielen könnte ihnen helfen, meinte er – als Familienersatz und zum Erfahrungsaustausch. "Eines Dienstags erzählte ich fünf meiner Freunde von der Idee," erinnert sich Hyun-jun: "Und am darauffolgenden Samstag standen plötzlich 42 Nordkoreaner vor mir, die alle mitmachen wollten. Es war einfach unglaublich." Seither vergeht kein Wochenende ohne ein Treffen des "Mirae FC" – dem "FC Hoffnung".
Hyun-jun weiß genau, dass seine Jungs keine Ronaldos und Messis sind: "Um gut Fußball spielen zu können, braucht man in erster Linie einmal Kraft und Energie," sagt er. Allein diese Voraussetzung ist in Nordkorea schon selten gegeben: "Man hat immer Hunger und da ist an Sport gar nicht zu denken!" Durch regelmäßiges Training spielen sie inzwischen aber ganz passabel und könnten es mit einer deutschen Kreisklassenmannschaft durchaus aufnehmen – sofern sich eine findet:
Härter, reicher, besser, Südkorea!"
Am Donnerstag, den 8.2.2018, sendet das ZDF um 23.15 Uhr die Doku "Härter, reicher, besser, Südkorea!":