Im Scoresby Sund an der Ostgrönländischen Küste sind wir mit Mette Barselaisen, ihrem Mann Age, ihren Kindern und Mettes Bruder Agalu unterwegs, im größten Fjordsystem der Welt. Rund siebenhundert Kilometer fahren wir mit zwei kleinen Außenbordern durch den Fjord und seine Seitenarme. Uns ist klar, dass diese Reise ein Abenteuer wird. Nur wenige Menschen, die nicht hier aufgewachsen sind, sind bislang so tief in den Fjord vorgedrungen.
Wir haben Kleidung für alle Wetterlagen dabei: Daunen- und Regenjacken, Fleece- und Thermounterwäsche, Hosen aus strapazierfähigem Material, wasserdichte Schuhe mit extra Filz-Innenschuhen, Schwimmwesten und sogar Trockenanzüge für den Fall, dass wir durchs Eis brechen oder über Bord gehen. Aber uns wird schnell klar: Wer hier ins Wasser fällt, hat auch mit Trockenanzug kaum eine Chance zu überleben. Auch Satellitentelefon und GPS-Tracker dienen eher der Beruhigung. Denn was nützt es, dass man um Hilfe rufen kann, wenn es im Umkreis von mehr als achthundert Kilometern keine menschliche Siedlung gibt? Die nächstgelegene befindet sich auf dem benachbarten Island, zwei Flugstunden entfernt.
Mit etwa fünfzig Stundenkilometern geht es durch den Fjord, der bis zu 130 Kilometer breit ist. Durch Eisfelder, vorbei an Kilometer hohen Gletschern und Eisbergen, die aussehen, als habe sie ein Riese handgeschnitzt. Wir sind fasziniert von der absoluten Einsamkeit und ihren Dimensionen, spüren die eigene Bedeutungslosigkeit in dieser mächtigen, majestätischen Natur. Wir trinken Wasser aus Gletscherflüssen und essen, was die Natur hergibt: Eisbär, Narwal, Fisch und Moschusochsen, auf deren Fellen wir nachts schlafen. Nach ein paar Tagen beschleicht uns das trügerische Gefühl wir hätten verstanden, was es bedeutet, hier zu leben, zu überleben. Doch wir werden gnadenlos aus dieser Illusion gerissen, als ein Sturm das Packeis aus dem Arktischen Ozean tief in unseren Fjord drückt, mitten im Juli! Mit Vollgas und riskanten Manövern versuchen unsere Bootsführer Age und Agalu, dem immer dichter werdenden Eis zu entkommen. Die Temperatur ist steil abgefallen.
Eisiger Fahrtwind frisst sich nach stundenlanger Fahrt durch alle Schichten unserer Kleidung. Ich bewege Finger und Zehen, spanne immer wieder meine Bein-, Arm-, Rücken- Bauch- und Brustmuskeln an in der Hoffnung, dass mir wärmer wird. Doch das kostet nur noch mehr Kraft. Auf einmal spüre ich die Kälte nicht mehr. Müdigkeit überwältigt mich, ich kann meine Augen kaum noch offen halten. Erst in diesem Moment wird mir klar, dass ich dabei bin, zu erfrieren. Als Reporter, der schon oft gefährliche Situationen erlebt hat, fühle ich mich dieses Mal dem Tod näher als je zuvor. Was mich im Nachhinein am meisten irritiert: Ich war bereit, alles einfach geschehen zu lassen. Mein Körper war so ausgekühlt, dass er im Begriff war, aufzugeben. Ich wollte nur noch einzuschlafen. In der Vorbereitung auf unser Projekt hatte ich darüber gelesen, was geschieht, wenn der Körper auskühlt. Aber ich hatte nicht erwartet, selbst in eine solche Situation zu kommen, mitten im Sommer, auf einem Boot mit Team-Kollegen und erfahrenen Jägern.
Dann plötzlich stoppen die Boote. Unsere Begleiter müssen Benzin nachfüllen, aus einem der vielen mitgebrachten Reservekanister. Der Fahrtwind ist weg, eine Erlösung. Erst fangen Finger und Zehen wieder an zu kribbeln, dann zittert der ganze Körper, das Leben kehrt zurück. Ich drehe mich zu unserem Kameramann Brian um. Sein Blick verrät mir, dass es ihm ähnlich ergangen ist. Wir ziehen uns eine weitere Lage Kleidung an und fragen uns, wie unsre Inuit-Freunde dem arktischen Frost standhalten. Ihr Kälteempfinden ist ein anderes. Sie sind es gewohnt, bei minus vierzig, manchmal sogar minus fünfzig Grad im Winter zu überleben. Noch eine halbe Stunde geht es mit Vollgas weiter, dann gibt es kein Weiterkommen mehr. Das Eis hat unseren Rückweg blockiert. Noch immer sind es knapp dreißig Kilometer zu dem 350-Seelen-Ort Ittoqqortoormiit, dem Ausgangspunkt unserer Fahrt, an der Mündung des Scoresby Sund. Wir stecken fest - gestrandet in der Arktis. Selbst unsere Begleiter werden nervös. Das Eis driftet schnell, es droht, die Boote zu zerdrücken. Deshalb drehen wir um, suchen eine eisfreie Bucht. Nach einer Viertelstunde treffen wir auf eine Gruppe von Narwaljägern, die auf einer langgezogenen, etwa fünf Meter hohen Klippe stehen.
Ihre drei Boote stecken genauso fest wie unsere. Auch wir gehen an Land und lassen unsere Kamera-Drohne steigen, um uns aus der Luft ein Bild von der Lage zu machen. Agalu, Age und die Jäger betrachten neugierig und konzentriert die Aufnahmen, die die Drohne liefert: Der Fjord ist vom Eis abgeriegelt, es wird so schnell kein Zurück für uns geben. Wir beschließen, unsere Zelte aufzubauen. Wir müssen Wachen aufstellen, denn über das Packeis können jederzeit Eisbären aus dem Nichts auftauchen. Und wir müssen beobachten, wie sich das Eis bewegt, ob es den Booten zu nahe kommt. Auf unsere Fragen, wie lange wir hier ausharren müssen, antworten die Jäger, es könne zwei Tage dauern, aber auch vier Wochen. Alles hinge vom Wind und von der Strömung ab. Uns dämmert allmählich, dass unsere Drehreise zu einem viel größeren Abenteuer geworden ist, als wir uns das je vorgestellt hatten. In den nächsten zwei Tagen müssen wir das Camp mehrmals ab und an anderer Stelle wieder neu aufbauen. Immer wieder kommt das Eis den Booten gefährlich nahe. Schließlich treffen Mette Age und Agalu einen Entschluss. Die Kinder sollen nicht länger hier draußen bleiben. Es ist zu kalt und zu gefährlich. Agalu soll mit uns und einem der Jäger das kleinere der beiden Boote mit den Kindern über das Packeis bis nach Ittoqqortoormiit ziehen.
Den ganzen Tag kämpfen wir uns über das Eis von Eisscholle zu Eisscholle, suchen nach offenem Wasser, in dem das Boot wenigstens ein paar Meter fahren kann, steigen ein und aus, laufen, ziehen, schieben. Immer wieder prüfen wir vorsichtig, ob das Eis hält. Manchmal bricht ein Stück ab. Wir haben Angst, selbst einzubrechen, was den sicheren Tod bedeuten würde. Für uns sieht das Eis überall gleich aus, aber Agalu und der Jäger können es lesen. Ohne sie wären wir verloren. Am späten Abend, es ist noch taghell, erreichen wir schließlich Ittoqqortoormiit , völlig ausgelaugt und glücklich, es geschafft zu haben. Wir sind erst am Anfang unserer Reise durch die Arktis. Noch wissen wir nicht, was uns in Kanada auf einer kleinen unbewohnten Insel in der Nordwestpassage erwartet. Wir haben nun eine Ahnung, was es bedeutet, in der Arktis zu leben. Nichts ist einfach. Alles muss jeden Tag erkämpft werden. Die Natur verzeiht keine Fehler, man muss immer auf alles vorbereitet sein. Dass sich eine friedlich anmutende Welt von magischer Schönheit mit einem Wimpernschlag in einen Furor verwandeln kann, der alles in Frage stellt, das haben wir am eigenen Leibe erfahren.