Wo sind die vier?“ bellt eine Frau in den Flughafenbus von Egwekinot. Mein Team und ich haben keine Sekunde Zweifel, dass wir gemeint sind: die vier vom ausländischen Fernsehsender, die nur mit einer speziellen, schon Monate im Voraus beantragten, Genehmigung in Tschukotka drehen dürfen.
Die Region in Russlands äußerstem Nordosten gilt als Grenzgebiet. Wir werden überall, wo wir ankommen, registriert und beobachtet - von Behörden und manchmal übereifrigen Nachbarn.
Für die Anreise zum Drehort brauchen wir acht Tage. Unter Einheimischen löst das immer wieder Erstaunen aus: Wie, so schnell? Acht Stunden Flug sind es allein von Moskau bis ins ostsibirische Anadyr. Doch das ist erst der Anfang unserer abenteuerlichen Reise. Gleich zu Beginn hält uns ein Schneesturm mehrere Tage lang in der Hafenstadt gefangen, bevor es mit dem Hubschrauber und mit Jeeps weitergeht. Das Tauwetter verlängert unsere Fahrt durch die Tundra von sechs auf achtzehn Stunden. Zu guter Letzt macht eine Reifenpanne eine ungeplante Übernachtung notwendig.
Ein Road-Trip, auf dem wir die endlosen Wartezeiten mit vielen Runden „Durak“ („Dummkopf“) überbrücken, einem russischen Kartenspiel. Am Ende der Reise liegt schließlich Wankarem. Das Dorf mit 180 Einwohnern liegt an einer Bucht der Tschuktschensee. Am Fuß der Klippen ruht sich eine Walrosskolonie mit mehreren tausend Tieren aus. Über ihnen haust ein Eisbär in einer verlassenen Hütte. In seinem „Vorgarten“ liegen Tiergerippe, die Überreste seiner letzten Mahlzeit. Die Menschen in Vankarem leben seit jeher in Nachbarschaft zu den Raubtieren. Die Legenden der Tschuktschen, dem Volk, dem die meisten hier angehören, sind voller Eisbären, Wale und Walrosse.
Wir kommen bei Sergej und seiner Familie unter. Der 47-Jährige gehört der örtlichen Eisbär-Patrouille an. Er beobachtet, wo die Tiere in der Umgebung des Ortes Quartier beziehen und klärt die Bevölkerung Vankarems darüber auf, was zu tun sei, wenn ihnen doch einmal ein Bär zu nahe kommt. In der Grundschule hantieren schon 10-Jährige mit Signalpistolen. Für unsere Augen ist das ungewöhnlich. Die Kinder müssten früh lernen, wie sie sich vor Eisbären schützen können, erklärt man uns. Wir wollen unbedingt Nordlichter filmen, doch das löst bei Sergej und seiner Familie Unbehagen aus. Ohne Signalpistole lässt er uns nachts nicht auf die Straße. Er ringt uns das Versprechen ab, uns nicht zu weit vom Haus zu entfernen.
Als sich eines Nachts die Polarlichter über Vankarem zeigen, starren wir fasziniert auf das Schauspiel am Himmel – und werfen gleichzeitig immer wieder einen Blick zurück über die Schulter, um sicher zu gehen, dass sich nichts und niemand anpirscht. Als indigenes Volk haben die Tschuktschen Sonderrechte: Für den Eigenbedarf dürfen sie Walrosse jagen, obwohl die Tiere auf der Liste der bedrohten Arten stehen. Etwa drei Tiere braucht eine Familie, um durch den arktischen Winter zu kommen, erzählen sie uns. Das Fleisch der Tiere enthalte genau das, was der menschliche Körper brauche, wenn die Sonne in der Polarnacht monatelang nicht aufgeht. Am letzten Tag unseres Besuches ist Jagdwetter.
Auf einem kleinen Motorboot fahren Sergej, sein Neffe Juri und unser Kameramann zur Kolonie. Stunden später kommen sie starr vor Kälte zurück, mit einem erlegten Walross im Schlepptau. Ob Haut, Fleisch oder Innereien: jedes Teil des Walrosses wird Verwendung finden. Doch bevor sich die Familie ans Zerlegen macht, gießt Sergejs Frau dem Koloss einen Schluck Süßwasser über das Gesicht. Eine alte Tradition der Tschuktschen, mit der sie dem Tier dafür danken, dass es sich für sie geopfert hat.