Die Reichspogromnacht war ein einschneidendes Ereignis der deutschen Geschichte: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Deutschland und Österreich Synagogen, jüdische Gemeindehäuser und Geschäfte beschädigt und zerstört. "Ich habe das gar nicht begriffen", erinnert sich der Schauspieler Günter Lamprecht, der die Pogromnacht als Kind in Berlin erlebte.
"Es war eine große Aufregung in der Stadt", daran kann sich der Schauspieler Günter Lamprecht noch gut erinnern. Den 9. November 1938 erlebte er als achtjähriger Junge in Berlin. "Alles war zertrümmert", beschreibt Lamprecht seine Eindrücke.
Starke Spuren hinterlassen
Die Reichspogromnacht hatte in Lamprechts Heimatstadt starke Spuren hinterlassen. Und auch Lamprecht geriet in den Strudel der Ereignisse: Als er am Nachmittag nach der Pogromnacht aus der Schule kam, schlug sein Freund Helmut vor, einen jüdischen Tabakwarenladen zu plündern.
"Ich habe das gar nicht begriffen", erinnert sich Lamprecht an den Tag. Halb gedrängt von seinem Freund, halb von Neugier getrieben betrat er den Laden. Der jüdische Besitzer saß tatenlos dabei und sah zu, wie sein Geschäft geplündert wurde. Das habe ihn lange belastet: "Wenn man da so einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich sieht, bekommt das eine ganz andere Dimension." Und dennoch klaute auch Lamprecht Zigarren - für den Opa. Nicht ohne beklemmende Gefühle: "Ich hab mich geschämt", erinnert er sich. "Diese drei Kisten Zigarren haben mich gequält ewige Zeiten."
Willkürliche Gewalt und Unrecht
Die Aufmärsche der Jugend, die Heimabende der Hitlerjugend, die Gewalt. Das alles war ihm als Achtjähriger ein Gräuel. Sein Vater war ein strammer SA-Mann, seit 1925 bereits Mitglied der NSDAP. Die braune Uniform habe etwas mit seinem Vater gemacht, ist Lamprecht überzeugt. Der Familie ging es besser, man zog in eine größere Wohnung. Lamprecht musste die Veranstaltungen der Jugendorganisationen besuchen, so zum Beispiel dem Fanfarenzug beitreten. Dort wurden Lieder wie "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" gesungen. "Da habe ich nicht hingepasst", so Lamprecht. In eine verkehrte Welt sei er hineingeraten. Einst angesehene Mitbürger waren nun unbeschränkter Gewalt und Willkür ausgeliefert: "Das war Unrecht", sagt er.
Mit der Pogromnacht gingen die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen die jüdische Minderheit im Deutschen Reich über. Es brannten Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, jüdische Bürger misshandelt. Als Vorwand für die Übergriffe diente den Nationalsozialisten das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris. Propagandaminister Joseph Goebbels nutzte die Gelegenheit, um bei einem Treffen von Parteiführern in München das Signal für die Gewaltaktionen zu geben. In der Öffentlichkeit versuchte die NS-Führung, die Welle der Gewalt als "spontanen Ausbruch des Volkszorns" erscheinen zu lassen.
Die Demütigung der Wiener Juden
Auch der Schriftsteller, Regisseur und Journalist Georg Stefan Troller erlebte als Jugendlicher die Reichspogromnacht. Sein Vater hatte ein Pelzgeschäft - mit vier Angestellten, "für Wiener Verhältnisse ein Großbetrieb", beschreibt Troller das Leben als Jude in Wien. Er wollte Dichter werden - "zum Entsetzen der Familie". Doch im Frühjahr 1938 wurde er "ausgeschult" - jüdische Kinder durften das Gymnasium nicht länger besuchen. Das Geschäft seines Vaters wurde "arisiert".
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Die Reichspogromnacht erlebte er in einem Kellerversteck. Von dort konnte er auf den Hinterhof der Polizeiwache sehen. "Dort wurden den ganzen Tag die Juden mit Lastwagen eingeliefert", erinnert er sich. Und weiter: "Man ließ sie 'turnen', wie es hieß." Dabei mussten die Juden Befehle ausführen - sich hinlegen, aufspringen, auf allen Vieren krabbeln: "Eine komplette Demütigung", so Troller. Die Reichsprogromnacht war ein Warnschuss für die Juden: "Wir wussten, von nun an geht es erst richtig los", sagt Troller. Seine Familie verließ Österreich schweren Herzens: "Wir haben ja Wien geliebt. Wien war unsere Heimat".
"Keine Hoffnung mehr in diesem Land"
Doch für die Juden gab es in diesem Land keine Hoffnung mehr. Troller kam 1945 als US-Soldat zurück in seine Heimat. Er gehörte zu den Befreiern des Lagers Dachau. „Dass ich je jemanden getroffen hätte, der sich bei mir entschuldigt, der gesagt hätte, ich war schuldig, verzeihen Sie mir – das ist mir nie passiert“. Rückblickend ist für ihn klar: "Die Pogromnacht war ein Vorspiel zu einer Tragödie, die später stattfand - und man hat sie auch als solche empfunden!" Am Ende stand der Holocaust.