Menschen mit Tourette können ihre Ticks so wenig beeinflussen, wie Gesunde einen Niesanfall. Das Umfeld reagiert häufig irritiert. Aber das Tourette-Syndrom ist keine komische Angewohnheit, sondern eine unheilbare, neuropsychiatrische Erkrankung.
Das Tourette-Syndrom tritt meist schleichend im Alter zwischen sechs und acht Jahren auf. Fast nie zeigt es sich nach dem 18. Lebensjahr. Betroffen sind in Deutschland schätzungsweise 40.000 Menschen - viermal mehr Jungen als Mädchen. Die Dunkelziffer liegt allerdings deutlich höher. Nach der Pubertät können die Symptome schwächer werden, doch meistens bleiben sie dauerhaft. Die Ursachen können sowohl in einem gestörten Stoffwechsel im Gehirn liegen, als auch genetisch bedingt sein. Abschließend ist das bis heute nicht geklärt.
Die 37 Grad-Sendung "Wir ticken anders" begleitet zwei Protagonisten, die mit dem Tourette-Syndrom leben. Wie gehen sie mit ihrer Krankheit um? Wie erleben sie die Reaktionen der Mitmenschen? Worüber können sie trotz des Leidens auch lachen?
Unterdrücken verschlimmert nur
"Ich hasse Tourette", sagt Pauline traurig. Die 18-Jährige kann immer noch nicht fassen, wie sehr sich ihr Leben innerhalb eines Jahres verändert hat. Urplötzlich begannen die Ticks. Erst nur mit Augenrollen, ungewollten Schlägen auf die Brust und schließlich merkwürdigen Tönen, die sie von sich gibt. Alles begann ausgerechnet in der Zeit, als die Schülerin in Island ein Gymnasium besuchte. Anfangs versuchte Pauline, die Ticks zu verheimlichen, doch das verschlimmert sie nur.
Im Frühjahr 2019 kam dann die Diagnose: Tourette. Paulines Mutter Ute kann seither nicht mehr Vollzeit arbeiten: "Ich muss mich daran gewöhnen, dass Pauli nicht mehr so tickt wie früher." Zu Beginn der Dreharbeiten hofft Pauline noch auf ein Wunder. "Manchmal habe ich sehr gute Tick-Tage, dann ticke ich wenig und habe die Hoffnung, es wird besser." Pauline versucht, trotz Tourette-Diagnose und einer Vielzahl von Arztterminen, in Berlin ihr Abitur zu machen. Doch das erfordert Kraft und Selbstbewusstsein.
Denn die Erkrankung zeigt sich unberechenbar. Nahezu wöchentlich verändern sich die Ticks. "Wenn ich neue Menschen treffe, rufe ich fast immer 'Du kannst nix'", sagt Pauline. Manchmal freut sie sich, wenn sie andere Menschen durch ihre Ticks zum Lachen bringt: "Dann war die Krankheit wenigstens für etwas gut". Doch dann erlebt Pauline immer wieder Tiefpunkte. Denn Tourette kommt selten allein. Angst-, Zwangs- und Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen und Suchterkrankungen können die Begleiterscheinungen sein. Pauline muss schließlich für drei Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. "Bei dem Wort Psychiatrie war ich erst mal geschockt", sagt ihre Mutter Ute, "aber dann bedeutete Psychiatrie einfach Hilfe."
Medikamente, Tests, Therapien und dann immer wieder der Versuch, ein 'normales' Leben zu führen. Zum Glück hat Pauline gute Freundinnen, die sie so nehmen, wie sie ist, und schnell eingreifen, wenn sie im Restaurant ungewollt "Mango-Salat" ruft. Auch so ein Tick....
Ein Jahr lang begleitet die Dokumentation die Schülerin. Und immer wieder kommen neue Symptome dazu. "Die schlimmste Erfahrung ist, Pauline nicht helfen zu können", sagt Ute und drückt ihre Tochter innig an sich. Die zwei halten zusammen und hoffen, trotz Tourette den Weg in ein normales Leben zu finden.
"Man kann daran wachsen"
"Klar gab es Leute, die mich nachgemacht haben und einfach gemein waren. Ich glaube aber, dass viele Leute mit einem Handicap in manchen Punkten stärkere Menschen sind. Man kann daran wachsen.", so Bijan K. aus Darmstadt. Bei ihm begannen bereits als Grundschüler die ersten Ticks. Er galt als Zappelphilipp, der seinen Kopf heftig nach hinten warf und manchmal eine Halskrause tragen musste. Seine Großeltern, bei denen Bijan aufwächst, können mit den seltsamen Symptomen nichts anfangen. So vergehen Jahre, bis tatsächlich die Diagnose Tourette-Syndrom gestellt wird.
Dennoch wollte Bijan schon als Schüler in die Politik gehen. Der heute 30-Jährige hat sein Abitur und ein Volkswirtschafts-Studium abgeschlossen. Statt Rückzug hielt er als Abgeordneter Einzug in den Hessischen Landtag. Jeden Tag besucht er Sitzungen und trifft verschiedene Menschen. Viele haben sich daran gewöhnt, dass seine Hand öfter mal ausrutscht und Zentimeter unter ihrer Nase landet oder sein Kopf zur Seite kippt. Aber seine Ticks verletzen niemanden - auch sprachlich nicht.
Nur ein Viertel der Tourette-Betroffenen hat die sogenannte Koprolalie, bei der unbeabsichtigt obszöne Wörter gerufen werden. Davon und auch von anderen Zwangsstörungen blieb Bijan verschont. Heute nimmt er keine Medikamente mehr und versucht erst gar nicht, seine Ticks unter Kontrolle zu bringen, weil das viel zu anstrengend ist.
Auch wenn Bijan offen mit seinem Tourette umgeht, ist die Krankheit doch belastend. Er muss sich täglich damit auseinandersetzen. Spürbar wird das vor allem in Stresssituationen. Bei einer Reise nach Berlin zum Bundestag vermehren sich seine Ticks, werden auffälliger und unkontrollierter. Es ist auch der Lärm der Großstadt, der die Ticks intensiviert.
Zu Hause, wenn es ruhiger wird, geht es ihm besser. Im Privatleben hat Bijan eine Freundin, einen verlässlichen Freundeskreis, er macht Fitness, spielt Fußball und sogar Theater. Durch seinen politischen Erfolg ist er Botschafter einer höchst komplexen Krankheit geworden. Das ist Bijan zwar wichtig, dennoch will er nicht darauf reduziert werden. Er möchte eher als Politiker wahrgenommen werden. Bijans Humor blitzt dann auf, wenn es um seine Einschränkungen geht: "Ach, was ist schon Behinderung? Ich sehe jeden Tag eine Menge Leute, die vermeintlich keine Behinderung haben und ich selbst dennoch unglaublich im Wege stehen."
Fakten zum Thema
-
-
-
Der Youtube-Channel "Gewitter im Kopf"