Sie hatten große Träume. Alisa (6) - Turnwunder aus dem ukrainischen Nikopol, ausgezeichnet mit vielen Medaillen und einer Zukunft in der Olympia-Disziplin Rhythmische Sportgymnastik. Ihr Bruder Ilja (17) war auf einem Elite-Gymnasium für Fußball. Und jetzt?
Zerrissen
Wehrpflichtige Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen. Einen langen Krieg vor Augen sahen die Eltern Sohn Ilja schon im Schützengraben. Das wollten sie unbedingt verhindern und landen in der oberbergischen Kreisstadt Gummersbach.
Als ihre Welt noch heil war, luden Talentspäher Ilja damals zu einem dreiwöchigen Probetraining beim spanischen Erstligisten FC Valencia ein. Sein Traum, gegen Real Madrid und den FC Barcelona zu spielen, wird zunächst von Corona ausgebremst. Dann rollen Putins Panzer.
Gestrandet im Bergischen Land
Statt beim FC Valencia hält sich Ilja jetzt auf dem Sportplatz eines Dorfvereins im Oberbergischen Land nahe Köln fit. Vermittelt hat ihm das der verwitwete Werner (78), der ihn, seine Schwester und die Mutter nach ihrer Flucht bei sich untergebracht hat.
"Mit der Unterbringung der Flüchtlinge allein ist es nicht getan", sagt Sigrid aus dem nächsten Dorf. Sie selbst hat eine Familie mit vier kleinen Kindern aus der Nähe von Odessa aufgenommen. Als ehemalige Beschäftigte bei der Stadtverwaltung kennt die sich bei den anstehenden Behördengängen aus und übernimmt für Werner und seine Schützlinge die offiziellen Belange. Ohne deutsche Sprachkenntnisse kann kein Formular ausgefüllt werden. Sigrid betreut auch Alisa, wenn die Mutter Besorgungen macht oder Werners Haushalt führt. Verständigt wird sich über eine App und Übersetzer, soweit vorhanden.
Auf der Suche nach einem Weg
Rentner Werner kümmert sich derweil um die sportliche Weiterbildung seiner Gäste. Das Fußballtalent Illia hat Werner inzwischen zu einem Verein einige Klassen höher vermittelt. Nach den ersten Trainingseinheiten ist klar, dass sie ihn wohl nicht lange werden halten können und bald schon ein Sichtungslehrgang in einem Trainingszentrum des Deutschen Fußballbundes ansteht.
Auch bei seiner Schwester stehen Entscheidungen an. Sie hat in der Ukraine seit dem dritten Lebensjahr täglich vier Stunden auf höchstem Niveau trainiert. Jetzt, in der Not, verbindet sie sich täglich über Videoschalte zwei Stunden mit ihrer Trainerin in der Ukraine. Werner hat ihr in einem der wenigen leistungsfördernden Institutionen NRWs ein Vorturnen vermittelt, zu dem er sie hinfahren wird.
Sterben die Träume?
Aber was ist, wenn sie dort angenommen wird? Vom Dorf vier Mal die Woche zum Training nach Essen fahren? Das sind allein vier Stunden Fahrzeit. Wie soll das gehen, wenn die Schule dazu kommt? Eine Wohnung in Essen suchen? Wovon bezahlen?
Mit dem Vater sprechen sie täglich über Handy und versuchen dabei, ihre Sorgen um die Zukunft wenigstens kurz zu verdrängen. Aber manchmal gibt es Alarm, Bomben sind zu hören, dann bricht das Gespräch ab.
Was sind die Träume von damals noch wert, wenn das Leben des Vaters auf dem Spiel steht?