Ungeküsst

Vor ungefähr einem Jahr treffe ich eine Freundin zu einem Spaziergang. Sie ist damals Single und auf der Suche nach einer neuen Beziehung. Sie erzählt mir von einer Internetbekanntschaft, aus der leider nichts wurde. Der Mann traue sich nicht, den ersten Schritt zu machen, er sei einfach zu schüchtern, erzählt sie mir. Sie vermutet, dass er noch keine Beziehungserfahrung gemacht habe.

Das lässt mich hellhörig werden. Ist dieser Mann ein Einzelfall oder was steckt dahinter, frage ich mich und fange nach unserem Treffen an zu recherchieren. Im Internet stoße ich auf den Begriff „Absolute Beginners“: Erwachsene, die meist unfreiwillig ohne Liebesbeziehung und Sex leben. Die Bezeichnung geht auf David Bowies Songtext zurück und wird seit Ende der 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum von Betroffenen innerhalb der Online-Community als Selbstbezeichnung verwendet. Früher nannte man diese Menschen „Hagestolz“ oder „alte Jungfer“. Ansonsten finde ich kaum Informationen oder Literatur zu diesem Thema. Ohne Sex zu leben – immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft? Ich finde schließlich eine Expertin: Sexualtherapeutin Monika Büchner. Wir verabreden uns in ihrer Praxis in Frankfurt am Main zum persönlichen Gespräch.

Sexualität ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig: im Fernsehen, im Internet, auf Werbeplakaten. Sie scheint zum Leben jedes Erwachsenen zu gehören. Doch schätzungsweise zwei Millionen Deutsche leben als „Absolute Beginners“, erfahre ich von Monika Büchner. Sie haben den ersten Kuss und das erste Mal noch vor sich. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Das liegt auch daran, dass das Thema für die Betroffenen so schambesetzt ist. Fast jeder hat einen Beginner in der Familie oder Bekanntenkreis, vermutet die Therapeutin. Doch die meisten sprechen nicht über ihre Situation und leiden oft im Stillen. Zwei Drittel von Monika Büchners Klient*innen sind männlich, ein Drittel weiblich. Die Betroffenen stammen aus allen Berufsgruppen, und ihre Unerfahrenheit sieht man ihnen nicht an, erfahre ich durch das Gespräch. 

Mir ist bewusst, dass es schwierig sein würde, Betroffene zu finden, die mir ihre Geschichte vor der Kamera erzählen wollen. Durch Monika Büchner treffe ich Johanna. Die 48-Jährige ist die einzige unter Büchners Klient*innen, die sich bereit erklärt, mit mir zu telefonieren. Einige Wochen später besuche ich Johanna für ein persönliches Kennenlernen. Bei einem langen Spaziergang erzählt sie mir aus ihrem Leben. Was mir sofort auffällt, ist ihre offene und herzliche Art. Nach unserem Gespräch wünscht sie sich eine Woche Bedenkzeit. Dann ruft sie mich an und sagt zu meiner großen Freude zu.

Durch eine weitere Recherche treffe ich Christophe, 49 Jahre alt, und fahre zu ihm nach Ostfriesland. Auch er ist sehr aufgeschlossen, und vom ersten Moment an ist eine gegenseitige Vertrautheit da. Meine dritte Protagonistin Jana finde ich im Internet durch ihren Blog „Fünfunddreißig & ungeküsst“. Die 38-Jährige hat sich mit ihrer Geschichte, anders als meine beiden anderen Protagonist*innen, schon öffentlich geoutet und ist nach einem ausführlichen Skype-Interview zu Dreharbeiten bereit.

Meine drei Protagonist*innen – die unterschiedlicher nicht sein könnten – haben eine Gemeinsamkeit: alle wünschen sich mehr Toleranz von der Gesellschaft. Auch ohne Sex, Partnerschaft und Familie solle man sich nicht als Außenseiter fühlen müssen. „Wir sind doch keine Aliens. Und jeder hat es doch verdient, glücklich zu sein, egal wie“ – so drückt es Jana aus.