Immer auf der Hut

Ich habe mich verliebt, in Kai-Uwe. Doch der hat leider nur Augen für unseren Assistenten bzw. vielmehr für dessen Tonangel. Bei jedem Dreh knabbert er ausdauernd am Mikrofon-Puschel. Kai-Uwe ist der heimliche Star in Uta Wrees Herde auf Sylt. Als wir uns das erste Mal treffen, steht ihr Job auf der Kippe – und damit auch die Existenz von Kai-Uwe und seinen Artgenossen.

Eineinhalb Jahre lang haben wir drei Generationen von Wanderschäferinnen und -schäfer begleitet – im Wald, an der Küste und auf dem Feld; während sengender Hitze, heftigen Stürmen und endlosen Regenschauern. So unterschiedlich Uta, Marthe und Klaus auch sein mögen, eines haben sie alle drei jederzeit gemein: Sie lieben ihren Job und vor allem ihre Tiere über alles!

Und dennoch sind Wanderschäferinnen und -schäfer hierzulande vom Aussterben bedroht. Rund 70 Prozent von ihnen schmissen in den vergangenen zehn Jahren hin – nicht, weil sie nicht mehr wollten, sondern weil sie nicht mehr konnten. Wie können, so lautete unsere Ausgangsfrage vor Drehbeginn, die Hirten ihre Herden gut behüten, wenn ihnen selbst immer mehr die Puste ausgeht?

Das Durchschnittsalter in der Branche beträgt fast 60 Jahre. Umso mehr freuten wir uns, als wir bei unseren Recherchen auf Marthe Lohse stießen – mit 24 Jahren die jüngste Wanderschäferin Deutschlands. Und die packt an! „Kannst Du mal kurz das Schaf hier festhalten? Ich komme gleich mit der Klauenschere!“ hieß es da gleich zu Beginn eines Drehtages. Nebenbei wuchtet die Schwerinerin dann schonmal mehrere schwere Wasser-Bottiche durch die Heide und fängt quasi nebenbei trächtige Ziegen oder frisch geschlüpfte Lämmer. Müde, ausgelaugt oder jammernd haben wir sie nie erlebt. Eine Überzeugungstäterin, eine echte Type, eine Wanderschäferin. Am schwierigsten war es, sie erst einmal zu finden. Ohne „Standort teilen“ via Smartphone würden wir Marthe und ihre Herde vermutlich heute noch suchen.

Als sie uns mit einem Lächeln offenbarte, dass sie am liebsten mit ihren rund tausend Tieren ganz allein sei, passte das aus meiner Sicht so gar nicht zu ihrem aufgeschlossenen Charakter. Im Laufe der Drehs haben wir dann aber immer mehr verstanden, dass Marthe neben der Anführerin vor allem ein Teil ihrer Herde ist. Die gute Hirtin – mit sich, der Welt und ihrer Herde im Reinen. Wir konnten dennoch von Treffen zu Treffen quasi dabei zusehen, wie auch bei Idealistin Marthe erste Spuren des harten Berufsalltages durchschimmerten.

Den kennt ihr Chef Klaus Seebürger schon seit mehr als vierzig Jahren. Klaus ans Telefon zu bekommen oder feste Drehtermine zu vereinbaren, war schwierig bis mitunter unmöglich. Klaus ist immer in Bewegung, häufig angespannt und vor allem immer mit viel Herzblut bei der Arbeit. Eine raue Schale, ja mitunter sogar ein „sturer Bock“ – aber sobald er über seine Tiere und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spricht, leuchten seine Augen und es huscht ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht.

Klaus weiß irgendwie alles über Schafe, kann stundenlang anschaulich über den Sinn ihrer Arbeit erzählen. Er ist, so mein Eindruck, vorsichtig geworden über die Jahre – ein gewisses Misstrauen schwingt immer mit. Beim Thema Wolf spürt man seine innere Zerrissenheit: Einerseits liebt er auch diese Tiere, andererseits fühlt er sich ihnen komplett ausgeliefert, kann seine Herden nicht mehr so beschützen, wie er es will. Ich habe Klaus auch als Fels in der Brandung kennengelernt. Man spürt die Bewunderung, die Marthe ihrem Chef ob seiner Expertise und Standhaftigkeit entgegenbringt.

Wer mit Uta Wree dreht, kann Konzept, Zeitplan oder Handynetz ab Sekunde eins über Bord werfen. Die 51-Jährige hat ihr Tempo, einen eigenen Rhythmus – eine fleißige, facettenreiche Frau. Robust und sanft zugleich: Uta kann laut werden, wenn die Menschen um sie herum nicht spuren. Unachtsame Touristen, die ihre unangeleinten Hunde in Utas Herde rennen lassen, machen das sicher kein zweites Mal. Die Fürsorge, mit der sich die gelernte Tierärztin um jedes einzelne Schaf kümmert, hat uns sehr berührt. Auch die Liebe, die sie ihrem Sohn Finn entgegenbringt. Uta ist während unserer Drehs mal verlegen, mal verzweifelt und am Ende sogar verliebt. Man wünscht ihr bei all den Wirrungen und Wanderungen, dass sie endlich einmal ankommen darf.

Uta spricht von ihren Schafen als „Rockstars der Landwirtschaft“. Touristen bleiben stehen, machen Fotos. Insulaner lassen die Tiere bei sich im Garten schlafen. Jürgen Klopp drehte mit Hirtin und Herde sogar einen Werbeclip auf der Insel – ironischerweise für eine Vermögensberatung. Während der Liverpool-Coach sich keine Sorgen machen muss, malocht Uta weit unter Mindestlohn und muss alle drei Jahre um ihren Anschlussvertrag bangen. Zwei Sylter „Stars“, deren Perspektiven unterschiedlicher kaum sein könnten ...

Es mangelt Uta, Marthe und Klaus an öffentlicher Wertschätzung für ihre Arbeit bzw. die ihrer Schafe und Hunde. Der ständige Blick in den Abgrund zermürbt und frustriert sie. Und doch ziehen sie einfach immer weiter – ihr Beruf ist für Wanderschäferinnen und -schäfer auch Berufung. Romantik trifft auf Sisyphos.