Die Reise meines Lebens

Wie fühlt es sich an, adoptiert zu sein und die eigenen Wurzeln nicht zu kennen? Eine Frage, mit der ich mich nun schon seit fast 20 Jahren beschäftige. Auch meine Tochter stammt aus Nepal. Als Baby haben mein Mann und ich sie adoptiert. Heute ist sie genauso alt wie Ruby. Im Alter von neun Jahren haben wir ihre leibliche Mutter erstmals in Kathmandu kennengelernt und leben heute einen regelmäßigen Kontakt, der allen Beteiligten gut tut.

Ich habe in der Vergangenheit zahlreiche Adoptivfamilien kennengelernt und viele Gespräche mit Adoptierten, mit Adoptiveltern und mit Herkunftsmüttern geführt. Jede Geschichte ist anders, und alle gehen unterschiedlich damit um. Ruby war schon drei Jahre alt als sie nach Deutschland kam und ihre Adoptiveltern erzählen, dass sie sich schon immer nach ihrer Familie in Nepal gesehnt hat. Ruby hat Glück, denn ihre Eltern gehen sehr offen und hilfsbereit mit dem Thema um. Das ist nicht selbstverständlich. Oft sind Adoptiveltern nicht in der Lage den Weg der "inneren Suche" ihrer adoptierten Kinder mitzugehen. Viele meist unbewusste Ängste spielen dabei eine Rolle. Wird mein Kind mich verlassen, wenn es die Herkunftsfamilie kennenlernt? Wird es nicht wieder zurück nach Deutschland wollen? Wird die Familie im Ausland das Kind behalten wollen? Vor allem Adoptivmütter stehen vor einer besonderen emotionalen Herausforderung. Es erfordert viel Mut und Kraft, die Mutter des eigenen Kindes kennenzulernen, denn es ist eine aufwühlende Konfrontation mit tiefen eigenen Themen.

Ruby ist eine selbstbewusste junge Frau. Das habe ich sofort gemerkt, als ich sie kennenlernte. Es war ein privates Treffen, in dem wir Adoptivfamilien uns darüber austauschten, wie es ist, die Herkunftsfamilie kennenzulernen. Wir haben mit unserer Tochter und ihrer Mutter in Nepal diese Erfahrung schon hinter uns, Ruby und ihren Eltern stand sie noch bevor. Schon bei der ersten Begegnung reden wir sehr offen über all die Fragen, die sie beschäftigen. Ich bin überrascht, wie differenziert  sie mit ihren 17 Jahren über ihre Adoptiongeschichte und ihren Umgang damit erzählen kann. Es ist besonders die existentielle Erfahrung des Weggegebenwordenseins, die sie wie alle Adoptierten beschäftigt. "Warum wollte mich meine Mutter nicht? Warum gibt eine Mutter das Kind weg, das sie neun Monate im Bauch trägt?" Ihre ganze Kindheit über phantasiert sich Ruby Puzzleteile ihrer Geschichte zusammen, ohne eine Antwort darauf zu bekommen. Immer hat sie das Gefühl auch noch jemand ganz anderes zu sein. Laut Adoptionsunterlagen war sie ein Findelkind, dessen Alter geschätzt wurde, Eltern unbekannt. Alle Nachforschungen der Adoptiveltern blieben ergebnislos. Als sich dann ihre Adoptiveltern trennten, brach für Ruby erst einmal eine Welt zusammen. In dieser Umbruchphase wurde das Thema Identität immer wichtiger für sie. Nach und nach konkretisierte sich der Wunsch in Nepal auf die Suche zu gehen.

Im Frühjahr 2016 passiert etwas, woran niemand geglaubt hatte. Rubys Familie aus Nepal schickt ihr eine E-Mail. Nicht Ruby hat ihre Familie gefunden, sondern ihre Familie sie. Noch nie habe ich im Zusammenhang mit Auslandsadoptionen von einer solchen ungewöhnlichen Geschichte gehört. Ruby und ihre Eltern sind überglücklich. Täglich schreibt Ruby nun Mails mit ihrer Schwester die sie nicht kennt. Und schnell ist ihr klar, dass sie nach Nepal will, um ihre Mutter und die Geschwister kennenzulernen, je früher desto besser. Schnell will Ruby nach Nepal, um ihre Mutter und die Geschwister kennenzulernen. Sie hat so viele Fragen, auf die sie endlich eine Antwort will. Es geht um die Suche nach Identität, die Auseinandersetzung mit brüchigen Familienverhältnissen. Im Interview sagt sie "Ich suche mich". Als Ruby mir erzählt, dass sie ohne ihre Adoptiveltern nach Nepal fliegen will, sondern nur mit ihrem 19-jährigen Freund Paul, kann ich es fast nicht glauben. Wo nimmt sie dieses Selbstbewusstsein her?

Ihre Eltern brauchen Zeit, um sich mit diesem ungewöhnlichen Wunsch ihrer Tochter auseinanderzusetzen. Auch sie hätten Rubys Mutter und ihre Geschwister sehr gerne kennengelernt. Viele Fragen quälen sie nun. Kann Ruby überhaupt abschätzen, auf was sie sich einlässt? Wird die Mutter in Nepal sie vielleicht bei sich behalten wollen? Erst als die Entscheidung gefallen ist, über Rubys Reise einen Film für 37 Grad zu machen, können sich die Eltern mit dem Wunsch ihrer Tochter arrangieren. Die Tatsache, dass ich mit meinem Kamerateam dabei bin, beruhigt sie. Nur wenige Wochen später sitzen wir alle im Flugzeug nach Kathmandu, und für Ruby beginnt die Reise ihres Lebens.

Der spannendste Moment für uns alle: Die erste Begegnung am Flughafen. Für Ruby eine riesige emotionale Herausforderung, der sie im Flugzeug schlaflos entgegenfiebert. Für uns eine enorme technische Aufgabe. Eine offizielle Drehgenehmigung für das Flughafengelände zu erhalten ist unmöglich. Also müssen andere Wege gefunden werden diesen wichtigsten Moment des Films mit Kamera und Ton einzufangen. Mit Alexander Griesser und Nick Friedrich habe ich zwei Kamera-Profis an meiner Seite, die versiert und spontan reagieren werden. Nach mehreren Diskussionen wie die Situation filmisch zu meistern ist, haben wir eine Lösung gefunden, klein und unauffällig. So konnten wir diesen für uns alle sehr berührenden Moment authentisch abbilden. Was dann folgt, ist eine Zeit voller Emotionen.

Ruby wohnt mit ihrem Freund in der Wohnung ihrer nepalischen Mutter. Auch das ein mutiger Schritt, wenn man um die typischen Wohnverhältnisse in Nepal weiß. Sie saugt den Alltag in Nepal in sich auf, passt sich an viele ungewöhnliche Dinge mit einer Selbstverständlichkeit an. Mit jedem Tag entwickelt sich eine Nähe zwischen ihr, ihrer Mutter und den Geschwistern. Eine Drehreise mit vielen berührenden und bewegenden Momenten, wenn Mutter und Tochter sich von Tag zu Tag besser kennenlernen.

Als Ruby zwei Wochen später wieder zuhause ist, wirkt sie gelöst. Für sie war es die wichtigste Reise ihres Lebens "Ich habe das letzte Puzzlestück in meiner Biografie gefunden", sagt sie. "Es war das Wichtigste, was jemals in meinem Leben passiert ist, und ich möchte im nächsten Jahr zusammen mit meinen Eltern nach Nepal." Wie sich künftig ein Kontakt zwischen beiden Familien aufrechterhalten und leben lässt, wird die Zukunft zeigen. Die Ursprungsfamilie kennenzulernen hat Ruby jedenfalls geholfen zu verstehen wo sie herkommt, wo sie steht, und sich mit ihrer Biografie auszusöhnen. Ich bewundere ihren Mut zur eigenen Identität und die Kraft, sich ihrer Geschichte zu stellen. Ich bin sehr dankbar für das Vertrauen, das Ruby, ihre Adoptiveltern sowie ihre nepalische Familie mir entgegen gebracht und tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt gewährt haben.

ZDF Erstausstrahlung: 21.02.2017, 23:15 Uhr
3sat Wiederholung: 27.02.2017, 00:35 Uhr

Film von Tina Radke-Gerlach
Kamera: Alexander Griesser
Schnitt: Lodur Tettenborn
Produktion: Claudia Comprix
Produzent: FiViPro-Produktion
Redaktion TV: Brigitte Klos
Redaktion Online: Dirk Brämer, Uschi Hansen