Deutschland kommt bei der Digitalisierung nur schleppend voran. Eigentlich sollte es Ende dieses Jahres möglich sein, 600 Behördengänge digital zu erledigen – von diesem Ziel wurden laut einer Verivox-Umfrage gerade mal 15 Prozent umgesetzt. 56 Prozent sind teils digitalisiert – darunter fallen aber schon schlichte Webseiten, die ausschließlich Informationen enthalten. Dort sei meist aber kein Upload von Belegen für Anträge möglich, die für die Bewilligung einer Leistung oft nötig seien. Bayern und Thüringen beharren sogar darauf, dass Unterlagen weiterhin nicht nur digital übermittelt, sondern auch per Fax verschickt werden können, als Service für die Bürgerinnen und Bürger. Andere Bundesländer wollen die veraltete Technik abschaffen. Zu 103 Leistungen finden sich online gar keine Informationen.
An Selbstsicherheit fehlt es der Politik dabei trotzdem nicht – schon 2017 verkündete Peter Altmaier: „Wir werden die bürgerfreundlichste und anwenderfreundlichste Verwaltung Europas haben – bis 2021.“ Alle Beziehungen zwischen Bürgern und Verwaltung sollen ab dann, bequem vom Computer zu Hause aus, rechtssicher zu regeln sein. Er sei bereit, zwölf Flaschen guten Grauburgunder darauf zu verwetten, dass dies klappe…
Deutschland fällt international im technologischen Wettrennen weiter zurück und ist zum zweiten Mal in Folge auf dem vorletzten Platz der sieben wichtigsten (G7) Industrienationen gelandet. Die direkten Nachbarn Frankreich und Italien, die wirtschaftlich und finanziell oft schwächer dastehen und wirtschaftspolitisch nicht selten von Berlin belehrt werden, haben in dem digitalen Ranking dagegen kräftig hinzugewonnen. Zieht man den Kreis noch etwas größer, steht Deutschland auch unter den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern (G20) weit abgeschlagen an drittletzter Stelle. „Es wird in Deutschland zwar viel über Digitalisierung geredet“, moniert Philip Meissner, Hauptautor der Studie und Professor an der ESCP Business School in Berlin, „aber es passiert relativ wenig.“
Ein EU-Land, an dem Deutschland sich ein Beispiel in Sachen Digitalisierung nehmen könnte: Spanien. 80 Prozent aller Haushalte in Spanien haben einen Glasfaseranschluss - in Deutschland ist es gerade einmal ein Zehntel. Bis 2025 soll Spanien nahezu 100 Prozent Glasfaserabdeckung haben. Auch in anderen Bereichen ist die Digitalisierung in Spanien weit fortgeschritten. 2003 schon wurde dort die digitale Signatur eingeführt. Mit der Signatur wurde der Grundstein für die Digitalisierung des ganzen Landes gelegt. Spanische Bürger kommen so direkt an Steuerzertifikate und Meldebescheinigungen, die sie sich umgehend bei der Behörde herunterladen – ohne Schlange stehen zu müssen und ohne Bearbeitungszeiten. Selbstständige passen ihre Rentenbeiträge über die Webseite der Sozialkasse an, Bürger überwachen die Auftragsvergabe der Behörden über ein staatliches Datenportal. Die Kommission der Europäischen Union stellt Spanien ein gutes Zeugnis aus: Zwar stehe das Land in der Digitalisierung noch hinter den baltischen und skandinavischen Staaten. Doch es liege deutlich vor den großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Italien. Im sogenannten „Digital Economy and Society“ Index 2021 heißt es: „Spanien ragt insbesondere bei den digitalen öffentlichen Dienstleistungen heraus, dank einer „digital-first“-Strategie seiner zentralen Verwaltung.“
Noch weiter vorne ist Estland. Bürger können dort mehr als 3000 Dienstleistungen – von Behörden und Unternehmen – digital erledigen. Als Schlüssel zu den digitalen Möglichkeiten dient die Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und mehr ist. Als erstes Land überhaupt bietet der baltische Staat außerdem eine virtuelle Staatsbürgerschaft an, die sogenannte e-Residency. Die ist vor allem für Unternehmen interessant. Mithilfe der e-Residency erhält man eine digitale estnische Identität, mit der man staatliche Dienste nutzen kann, um ein ortsunabhängiges Unternehmen zu gründen und zu führen.
Sogar im Kriegsgebiet in der Ukraine können die Menschen eine staatliche App benutzen, die fast alle staatlichen Dienstleistungen online anbietet. Seit Kriegsbeginn können Bürger mit der App sogar die Standorte russischer Truppen direkt ans Militär melden. Die Ukraine ist Deutschland auch bei der Integration von digitalen Lösungen im Bildungssektor einiges voraus. Tausende Kinder und Jugendliche aus der Ukraine nehmen gerade trotz des Krieges am Schulunterricht teil. Und das sogar in vielen Fällen in ihren alten Klassenverbänden und mit den gewohnten Lehrkräften. Der Unterricht läuft online in Europa – und schafft das, was vielen deutschen Schulen noch nicht gelingt. Möglich ist das mithilfe von ukrainischer Educational Technology, kurz EdTechs, wie der Onlineschule Optima, den Onlineschulbüchern von Skhola oder den Lernplattformen Numo und EdEra.
Warum schafft Deutschland es nicht, digital aufzuholen? Experten sehen „archaische Zustände“ in deutschen Behörden. Aber am Geld liegt das nicht, urteilen sie in einem wissenschaftlichen Gutachten des Wirtschaftsministeriums. Es komme vielmehr zu „verschiedenen Formen von Organisationsversagen“. Weiter fehle „eine klarere Zuweisung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten“, heißt es. So sei beim Digitalpakt Schule bislang nur ein Bruchteil der zur Verfügung stehenden Bundesmittel bei den Schulen angekommen. Auch das Argument, Deutschland habe während der Pandemie viele Digitalisierungsprojekte angeschoben, lassen die Gutachter nicht gelten. Vieles von dem, was während der Coronapandemie in kurzer Zeit umgesetzt wurde, hätte auch schon lange vor der Krise unternommen werden können, zitiert das „Handelsblatt“ den Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, den Ökonomen Klaus Schmidt. Und im Schul- und Gesundheitswesen habe es kaum Fortschritte gegeben.
Vielleicht liegt das Problem in Deutschland auch nicht ausschließlich in der Politik – so sind die Deutschen auch durchaus etwas technikfaul. Zum Beispiel nutzt nur knapp die Hälfte der Sparkassen-Kunden auch das Online-Banking. Aber auch allgemein sind viele Verbraucher in Deutschland beim Onlinebanking zurückhaltend. Nur 56 Prozent der Befragten wickeln ihre Bankgeschäfte in erster Linie online oder per Smartphone ab, ergab kürzlich eine Umfrage.