Sollen Atomkraft und Gas als nachhaltige Technologien gefördert werden? Die Frage treibt EU-Staaten, Bürgerinnen und Aktivisten seit Wochen um, seit die EU-Kommission Anfang des Jahres verlauten ließ, dass sie Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke, unter bestimmten Auflagen, als klimafreundlich einstufen will. Das geht aus dem Entwurf für einen Rechtsakt der Brüsseler Behörde hervor, der an Silvester öffentlich wurde.
Warum macht die EU das? Sind Kernenergie und Gas etwa doch grüner als gedacht? Und wo verlaufen die Konfliktlinien? Das hat sich das Format „Die da oben“ von Funk angeschaut und übersichtlich erklärt.
Den Verantwortlichen in der Kommission geht es dabei um die sogenannte Taxonomie. Idee dahinter ist es, Investorinnen und Investoren zu helfen, Geld nachhaltig anzulegen, um damit den gesamten Klimaschutz voranzutreiben.
Umweltschützer kritisieren die Pläne der EU-Kommission scharf. Nach dem Feedback der Mitgliedstaaten wird die Kommission nun einen offiziellen Vorschlag machen, der nur durch eine Mehrheit von mindestens 20 Staaten oder im EU-Parlament abgelehnt werden kann. Es gibt zwischen den EU-Staaten große Gräben. Während Deutschland bis Ende dieses Jahres all seine Atomkraftwerke abschalten will und den Vorschlag zumindest in Sachen Atomenergie ablehnt, setzt Frankreich dagegen weiter auf seine Reaktoren. Paris hat sich monatelang dafür eingesetzt, Kernkraft in die Taxonomie aufzunehmen – und hätte nach Angaben des Wirtschaftsministeriums auch nichts anderes akzeptiert. Frankreich ist laut der Internationalen Atomenergiebehörde hinter den USA und China der drittgrößte Atomstromproduzent. Das Land will in den kommenden Jahren neue Meiler bauen und erhofft sich durch die Taxonomie zusätzliche Investitionen.
Die Atomindustrie beschäftigt in Frankreich etwa 200.000 Menschen und ist damit die drittgrößte Branche im Land. Knapp 70 Prozent des Stroms werden nuklear produziert, schreibt die Korrespondentin der ARD. „EDF ist der größte Atomstromanbieter weltweit, betreibt Kraftwerke in England, baut in Finnland, hat in Polen, Italien und Indien Angebote vorgelegt. Doch das Unternehmen steckt in der Krise. Denn die insgesamt 56 Reaktoren in Frankreich sind im Schnitt mehr als 35 Jahre alt, allein sieben Reaktoren sind bereits heute mehr als 40 Jahre in Betrieb.“
Wie begründet Deutschland seine Ablehnung der Kernkraft? Umweltministerin Steffi Lemke sagt: Atomkraft sei eine Hochrisikotechnologie, wie Tschernobyl und Fukushima gezeigt haben. Weltweit existiere kein Endlager für hochradioaktiven Atommüll und wirtschaftlich sei Atomstrom unrentabel. Lemke warnt auch vor einer Beschädigung des EU-Labels als solches, sollte die Atomkraft künftig dazugehören. „Atomkraft als nachhaltig zu bezeichnen, ist nicht wissenschaftlich fundiert. Sollte die Einstufung kommen, würde die Taxonomie aus meiner Sicht damit beschädigt werden“, sagte Lemke. Da sich auf EU-Ebene keine Mehrheit gegen die neuen Einstufungen abzeichnet, gilt deren Inkrafttreten als wahrscheinlich.
Tatsächlich fand in Fukushima die schwerste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl statt: Am 11. März 2011 begann im Atomkraftwerk von Fukushima nach einem Erdbeben und dem folgenden Tsunami die Kernschmelze in drei Blöcken. Die Katastrophe in Japan war für die Deutschen der Einstieg in den Ausstieg. Noch immer wird in Fukushima insgesamt mit bis zu 10.000 Toten durch die Atomkatastrophe und damit einhergehende Folgeerkrankungen gerechnet. Schätzungen zufolge dürften die Entsorgungsarbeiten 30 bis 40 Jahre dauern. Die Folgekosten der Katastrophe werden mittlerweile auf umgerechnet bis zu 500 Milliarden Euro beziffert.
Sicher ist: Derzeit reichen die erneuerbaren Energien für den Betrieb des deutschen Stromnetzes nicht aus. Deshalb werden – statt Atomstrom – andere Übergangstechnologien benötigt. Das sagt zum Beispiel FDP-Chef Christian Lindner, er verweist auf die Bedeutung von Gas: „Deutschland benötigt realistischerweise moderne Gaskraftwerke als Übergangstechnologie, weil wir auf Kohle und Kernkraft verzichten", sagte der Finanzminister jüngst der Süddeutschen Zeitung.
Die deutsche Position zum Thema Atomkraft ist nachvollziehbar, ist zum Teil aber auch heuchlerisch. Denn schon seit Längerem wird hierzulande immer wieder (Atom-)Strom aus Frankreich oder Tschechien importiert, um das deutsche Stromnetz stabil zu halten. Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) geht sogar davon aus, dass Deutschland und NRW auch künftig Atomstrom aus der EU importieren werden. In gewissen Phasen werde man Atomstrom aus Ländern wie Frankreich und Tschechien importieren, um die Stabilität des Systems gewährleisten zu können, sagte er der Neuen Westfälischen.