Einem 49-jährigen Deutschen wird vorgeworfen, einen 20 Jahre alten Kassierer in einer Tankstelle in Idar-Oberstein erschossen zu haben. Der junge Mann hatte ihn zuvor auf die Maskenpflicht hingewiesen. Nach seiner Festnahme sagte der Täter den Ermittlern zufolge, dass er die Corona-Maßnahmen ablehne. Die Tat löste bundesweit großes Entsetzen aus. Nach Recherchen des Nachrichtenmagazins Spiegel und des auf Verschwörungsideologien spezialisierten Thinktanks Cemas fiel der mutmaßliche Schütze bereits vor zwei Jahren auf einem Twitter-Profil mit nebulösen Gewaltfantasien auf.
„Das Opfer hätte jeder von uns sein können“, sagt ein anonymer Mitarbeiter eines Supermarktes in einer Großstadt in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er spricht über aggressive Kunden und seine Enttäuschung über die Reaktion mancher Politiker: „Jeder, der im Einzelhandel arbeitet, hat seit anderthalb Jahren mit Kunden zu tun, die sich nicht an die Corona-Maßnahmen halten wollen. Ich muss eigentlich in jeder Schicht jemanden darauf hinweisen, bitte die Maske aufzusetzen. Jetzt stellt man sich natürlich schon die Frage: Spreche ich den ein oder anderen Kunden noch darauf an?“
Die Polizeigewerkschaft GdP warnt ebenfalls vor einer Radikalisierung der Coronaleugner-Szene. „Das ist der erste Fall einer Tötung in Verbindung mit Corona“, sagte GdP-Vize Jörg Radek den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Wir nehmen seit letztem Jahr eine Radikalisierung von Coronagegnern wahr.“ Die schwere Straftat sei zwar bislang ein Einzelfall, aber es habe bei Demonstrationen immer wieder Angriffe auf Medienschaffende und Übergriffe gegen Polizisten gegeben.
Auch die Sozial- und Rechtspsychologin an der Uni Mainz, Pia Lamberty, sieht eine zunehmende Radikalisierung des so genannten Querdenker-Milieus. Bei ZDF heute live spricht sie darüber, dass der Mord sie nicht überrascht hat. Aus ihrer Sicht sind schon seit „anderthalb Jahren immer wieder aus Worten Taten geworden“ und verweist auf Angriffe auf die Presse oder Störungen bei Impfzentren und Schulen durch solch Menschen aus der Szene.
Manch AfD-Mitglied macht indes die bisherige Regierung mitverantwortlich für die Tat. Die Bundesregierung habe „mit den völlig überzogenen Maßnahmen“ die Gesellschaft gespalten und Aggressionen geweckt, schrieb etwa Harald Laatsch, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die AfD, kürzlich auf Twitter. „Jetzt drehen die Ersten durch“, schrieb Laatsch weiter. Die Verantwortung dafür liege im Kanzleramt und im Kabinett.
Auch auf Politiker und ihr Auftreten wirken sich die zunehmenden Drohungen der radikalen Szene aus. So kann sich der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa nur noch mit Personenschutz draußen bewegen. „Es gab mehrfach Situationen, die ich ohne Unterstützung durch das Bundeskriminalamt nicht hätte meistern können“, erzählt Lauterbach bei T-Online. „Wenn ich keinen Personenschutz hätte, könnte ich den Wahlkampf so nicht führen. Ich habe auch sehr viel mit Bedrohungen durch rechte Gruppen zu tun. Ich muss da vorsichtig sein.“
Seit April werden bundesweit Personen und Gruppen der „Querdenker“-Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Verfassungsschutz hatte sich zunächst mit der Bewertung der Corona-Proteste schwergetan. Das liegt auch daran, dass der überwiegende Teil derer, die gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße gehen, keine Extremisten und diese Proteste auch legitim seien, wie die Tagesschau berichtet. In den vergangenen Monaten sei aber deutlich geworden, dass sich Teile der Bewegung zunehmend radikalisiert haben.
Die sozialen Netzwerke dienen oft als Katalysator und Antreiber für die Bewegung. Facebook hat deshalb vor einigen Wochen erstmals 150 Accounts wegen rechtsextremer Inhalte gelöscht. So lobenswert der Schritt ist, so sehr kann er aber nur ein Anfang sein, schreibt die taz. So ähnlich sieht es auch Zeit Online: Zwar sei die Reaktion verspätet, der Gedanke allerdings richtig. „Denn indem das soziale Netzwerk die Reichweite zerstörerischer Stimmen eingrenzt, sie teils ganz von der Plattform verbannt, verhindert es die weitere Verbreitung von Falschinformationen, Verschwörungstheorien und Hetze.“
Das Reportageformat „Die Story im Ersten“ berichtete jüngst in einer ausführlichen TV-Reportage über die Beeinflussung der Wählenden im Netz durch Verschwörungstheorien, radikale Gruppen und ausländische Akteure.