Laut des Deutschen Lehrerverbands erfährt Deutschland gerade den größten Lehrkräftemangel seit 50 Jahren. Dies sei eine große Bedrohung für die Zukunftschancen der Jugend, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger der Rheinischen Post. Er bemängelt: Der Lehrkräftemangel sei zu einem großen Teil „hausgemacht“. In der Bildungspolitik habe es in den vergangenen 10 bis 15 Jahren viele Versäumnisse gegeben.
Klar ist: Es herrscht Not an den Schulen. Der Lehrkräftemangel ist ein Dauerthema in der Bildungspolitik. Dass es aber so düster aussieht, überrascht dann doch: Noch ganze zwei Jahrzehnte Durststrecke erwarten Expertinnen und Experten. Die ständige wissenschaftliche Kommission (SWK), ein Beratergremium der Kultusministerkonferenz (KMK), hat jetzt Vorschläge zur Entspannung der Lage gemacht. Sie wollen unter anderem ein höheres Unterrichtspensum, weniger Teilzeitmöglichkeiten und gegebenenfalls auch größere Klassen. Die Kommission schlägt zudem vor, mehr Angebote zur Gesundheitsvorsorge bei Lehrkräften zu schaffen – etwa Coaching, Supervision oder Achtsamkeitstrainings. All die Ideen kamen bei denen, die das vor Ort umsetzen sollen, nicht gut an.
Mark Rackles, ehemaliger SPD-Schulstaatssekretär in Berlin und heute Inhaber einer Bildungsagentur, sieht die KMK sogar „politisch am Ende“ und „krachend gescheitert“. Er nennt zwei Beispiele: Der Konferenz sei es nicht ansatzweise gelungen, ihrer Aufgabe als länderübergreifender Koordinierungsinstanz gerecht zu werden. Weder sei es zu der 2009 in Auftrag gegebenen „gemeinsamen Strategie zum Lehrkräftebedarf“ noch zu den damals angemahnten „qualitativen Standards“ für den Quereinstieg gekommen.
Lehrerinnen und Lehrer fehlen überall: Von 40.000 fehlenden Lehrkräften im laufenden Schuljahr ging der Lehrerverband im vergangenen Jahr aus. Der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm hat berechnet, dass bis zum Jahr 2030 sogar 80.000 von ihnen fehlen werden. Vertretungslehrer und Quereinsteigerinnen werden aller Orten gebraucht werden. Eine ehemalige Pädagogin berichtet bei Zeit Online über ihren zermürbenden Job als Vertretungslehrerin: „Konkret bedeutete der Status als Vertretungslehrerin für mich, dass ich mit einer Vollzeitstelle für dieselbe Arbeit netto rund 1.000 Euro weniger verdient habe als die verbeamteten Lehrerinnen“, erklärt sie. „Dazu habe ich lange Fahrtzeiten fürs Pendeln hingenommen, bin morgens um fünf aufgestanden. Näher an die Schule zu ziehen, hätte sich nicht gelohnt, ich wusste ja nie, wie lange ich dort arbeiten würde.“
Erschöpfung, Müdigkeit, Depressionen: Ein Viertel aller angehenden Lehrer und Lehrerinnen leidet unter Burn-out-Symptomen, berichtet der MDR. Und nach fünf Jahren an der Schule hat bereits ein Drittel der frischen Absolventinnen und Absolventen schon wieder das Handtuch geschmissen, so eine Studie der Universität Halle-Wittenberg.
Lehramtstudierende kritisieren die fehlenden Didaktik-Elemente im Studium. Die Ausbildung sei zu fachspezifisch und theoretisch aufgestellt. Das „Unterrichten-Üben“ komme zu kurz. Für viele sei das frustrierend und ein Grund dafür, ihr Studium vorzeitig abzubrechen.
Auch zwischen den Bundesländern verschärft sich der Kampf um die wenigen Lehrkräfte. Bayerns Ministerpräsident Söder hat jetzt einen Vorstoß gemacht: Er verspricht seinem Land 6.000 neue Lehrerstellen – aber auch in Bayern fehlt es an massiv an Personal. Deshalb will Söder jetzt Pädagogen aus anderen Bundesländern abwerben. Das kommt in den anderen Bundesländern nicht gut an. Aber auch der Bayrische Elternverband (BEV) findet den Vorschlag peinlich. „Für die Bildung anderer Bundesländer hatten Sie bisher kaum mehr als Geringschätzung übrig“, schreibt BEV-Chef Martin Löwe an den Söder. Angesichts dessen solle der „sich schämen, nun, in der Not, im einst naseberümpften bayerischen 'Ausland’ nach Lehrkräften zu angeln“ – zumal auch dort Lehrermangel herrsche. Söder glaube, wegen der hohen Beiträge Bayerns zum Länderfinanzausgleich trotzdem ein Recht darauf zu haben, die noch übrigen abzuwerben, moniert Löwe. „Dafür schämen wir bayerischen Eltern uns an Ihrer Stelle.“ Der Bildungserfolg von Kindern sei schon jetzt vom Geldbeutel der Eltern abhängig. „Soll er nun auch noch von dem des Bundeslandes abhängen?“
Andere Bundesländer versuchen ihre Lücken vermehrt mit Quereinsteigenden zu füllen. Als Reaktion auf den Lehrermangel kommen beispielsweise in Thüringen immer mehr Seiteneinsteiger in die Schulen. Im Schuljahr 2021/22 hatte fast jede vierte neu eingestellte Lehrkraft kein abgeschlossenes pädagogisches Studium, so aktuelle Zahlen aus dem Land.
Der Bildungsforscher Dirk Zorn findet das Prinzip Quereinstieg per se keine schlechte Idee. Dies sei die beste Möglichkeit, den akuten Mangel an den Schulen zu lindern, sagte Zorn der Augsburger Allgemeinen. Das Modell funktioniere dann gut, wenn man Menschen mit Eignung für den Einsatz in der Schule auswähle und sie eine möglichst umfassende Qualifizierung und Begleitung von erfahrenen Lehrkräften bekämen.
Das ZDF-Reportageformat 37 Grad begleitete für einen Beitrag mehre dieser Seiteneinsteiger. Sonja (47) etwa, die sich nach zwei Jahrzehnten als selbstständige Eventmanagerin für den Quereinstieg entschied. Vor allem am Anfang war sie überfordert: „Ich weiß gar nicht, wie baue ich die Stunde auf und hab keine Ahnung, ob das jetzt richtig ist, ob das funktioniert. Ich kann es jetzt einfach immer nur ausprobieren. Mehr bleibt mir nicht.“ Alles, was Sonja zu diesem Zeitpunkt an pädagogischem und didaktischem Wissen hat, weiß sie aus einem zehntägigen Crashkurs und aus dem Zusammenleben mit ihrem sechsjährigen Sohn.