Die katholische Kirche erlebt derzeit eine Image- und Sinnkrise mit immer neuen Hiobsbotschaften. Vor Kurzem kam ein Gutachten zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden. Die Analyse der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl hatte das Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegeben. Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern, zugleich aber von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus. Vor allem der emeritierte Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, wird in dem Gutachten schwer belastet. Er habe als damaliger Münchner Erzbischof in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen. Die Ergebnisse des Gutachtens stellten die Anwälte der Kanzlei in einer Pressekonferenz vor.
Benedikts Verhalten gibt Rätsel auf. Der emeritierte Papst räumte nach Erscheinen des Gutachtens ein, bei seiner Stellungnahme eine falsche Aussage gemacht zu haben. Er habe – anders als zunächst behauptet – doch an einer umstrittenen Sitzung im Jahr 1980 teilgenommen. Bei dem Treffen ging es um einen Geistlichen, der mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern auffällig geworden war. Ratzingers Fehler sei aber „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, sondern „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme“, heißt es in einer Erklärung gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur. Es tue ihm „sehr leid“, und er bitte, dies zu entschuldigen.
Der Tagesspiegel sieht Benedikts Lebenswerk massiv beschädigt. Unfehlbar als Mensch müsse kein Papst sein, aber einsichtsvoll und reuig, heißt es in einem Kommentar: „Einer, der die Insignien der Macht so für seine rein selbstbezogene Ehrenrettung missbraucht, beginnt, das Papstamt zu zerstören. Benedikt XVI. wird sein Leben in Schande beschließen.“
Joseph Ratzinger solle sich bei Missbrauchsopfern entschuldigen. Das forderte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, in der ARD-Talkshow Anne Will. Auch die taz sieht Ratzinger in der Verantwortung. Sie verweist aber auch darauf, dass es generell besser wäre, künftig alle Personalakten aus den Geheimarchiven einer unabhängigen Überprüfung zugänglich zu machen – und die übliche Aktenvernichtung nach zehn Jahren einzustellen.
Doch auch der Staat ist gefragt: Viele hätten das Gefühl, die Justiz habe eine „Beißhemmung“ gegenüber der katholischen Kirche, wenn es um sexuellen Missbrauch gehe – das sagte der Passauer Strafrechtler Holm Putzke im BR. Auch andere Beobachterinnen und Beobachter attestieren den Staatsanwaltschaften Zurückhaltung bei der Verfolgung kirchlicher Missbrauchstäter. Unter ihnen auch der Kriminologe Christian Pfeiffer, von 2000 bis 2003 Justizminister in Niedersachsen. Seine damalige Rolle sieht er heute kritisch: „Ich bin nicht ansatzweise auf die Idee gekommen, mit den Generalstaatsanwälten darüber zu reden, dass wir hier eine grundlegende Untersuchung machen müssten. Das ist erst zehn Jahre später der Fall gewesen. Aber das wäre der Zeitpunkt gewesen, wo die Justiz von sich aus aktiv werden hätte müssen.“
Seit dieser Woche tagt wieder der sogenannte Synodale Weg in Frankfurt. Ein Diskussionsforum, in dem Bischöfe und Laien gemeinsam Reformvorschläge für die katholische Kirche machen wollen. Der Reformprozess soll Machtmonopole aufbrechen und rechtsstaatliche Standards in der katholischen Kirche gewährleisten. Die katholische Theologin Monika Schmelten zweifelt, ob das Forum wirklich den Durchbruch bringen wird: „Es geht darum, die katholische Kirche, die Institution, aus der Unglaubwürdigkeit vielleicht auf einen neuen Weg zu bringen. Das wird sehr lange dauern“, so Schmelten. „Da ist so massiv Vertrauen zerstört, vertuscht und gelogen worden. Da müssen wir einen langen Atem haben.“
Bis heute werden homosexuelle Handlungen in der katholischen Kirche kirchenrechtlich geahndet. Dadurch kann beispielsweise das Eingehen einer gleichgeschlechtlichen Ehe zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen. Im Rahmen der Aktion #outinchurch hatten sich jüngst 125 kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als nicht heterosexuell geoutet – auch auf die Gefahr hin, dass sich dies negativ auf ihren Job auswirken könnte. Die Initiatoren von #outinchurch haben zudem eine Petition aufgesetzt, um die Praxis der katholischen Kirche zu ändern.
Für viele Gläubige ist das Maß mittlerweile voll – sie entscheiden sich für einen Austritt aus der Kirche. Allein in Nordrhein-Westfalen haben im vergangenen Jahr 155.322 Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. In der bis 2011 zurückreichenden Statistik des Justizministeriums sind das so viele wie noch nie. Auch in anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus. Die Termine bei den zuständigen Amtsgerichten sind allerorts ausgebucht. Der Austritt kann aber auch durch eine Erklärung bei einem Notar gegen Gebühr erfolgen. Gültig wird der Kirchenaustritt jedoch erst dann, wenn das Dokument vom zuständigen Amtsgericht bestätigt worden ist.
Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Civey denkt jeder dritte Katholik in Deutschland darüber nach, aufgrund der Missbrauchsfälle im Erzbistum München und Freising aus der Kirche auszutreten. Die Zahl der Katholiken in Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich gesunken, von 28,3 Millionen im Jahr 1990 auf 22,2 Millionen im Jahr 2020.