Deutschland hat zu wenig Personal. Unternehmen können rund zwei Millionen Stellen nicht besetzen. Lehrkräfte, Kitapersonal, Pflegekräfte oder IT-Spezialistinnen werden händeringend gesucht. Und dennoch sagen manche Experten: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutschland.
Der Arbeitsmarktökonom Simon Jäger hält im Interview mit dem Spiegel fest: „Aktuell gibt es in Deutschland so viele Erwerbstätige wie nie – 45,9 Millionen, die besser ausgebildet sind als alle früheren Jahrgänge. Unternehmen beschweren sich seit 40 Jahren über den Fachkräftemangel.“ Dafür gebe es jedoch eine einfache marktwirtschaftliche Lösung: höhere Löhne. Wenn einem Unternehmen Fachkräfte fehlen, könne es das eigenständig ändern. Bietet es höhere Löhne oder auch bessere Arbeitsbedingungen an, werde es attraktiver. „Wenn Unternehmen Arbeitskräfte suchen oder an sich binden wollen, werden sie mehr bezahlen oder bessere Arbeitsbedingungen schaffen.“
Auch die Journalistin Ursula Weidenfeld sieht keinen allgemeinen Notstand: „Fachkräftemangel ist nur die bequeme Chiffre für alles geworden, was in diesem Land schlecht läuft. Die ehrliche Gleichung geht so: Je miserabler die Unternehmen aufgestellt sind, je schläfriger eine Behörde arbeitet, je schlechter bezahlt wird, desto schlimmer ist der Fachkräftemangel. Was helfen würde, wären bessere Chefs, effizientere Arbeitsabläufe und erfreulichere Arbeitsbedingungen. Denn Fachkräfte fehlen (noch) nicht. Sie sind nur woanders.“
Für den Ökonomen Clemens Fuest sind Lohnerhöhungen die wichtigste Antwort auf fehlende Fachkräfte – etwa in der Pflege. In einer Marktwirtschaft müssten Güter, die knapp seien, teuer sein, betonte der Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Natürlich seien auch Qualifikationsmaßnahmen und Investitionen in Bildung sowie Gesundheit wichtig, aber: „Die wichtigste Antwort auf Fachkräfteknappheit ist das Erhöhen von Löhnen“, so Fuest.
Jäger blickt kritisch auf die langfristige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt: „Über die letzten 30 Jahre stagnierten die Einkommen im Niedriglohnbereich im Durchschnitt kaufkraftbereinigt, obwohl unsere Produktivität insgesamt stark gestiegen ist“, so der Ökonom. „Die unteren Einkommen haben von der wirtschaftlichen Entwicklung lange kaum profitiert. Gerade dort, wo Löhne niedrig waren, ist nun aber der Druck besonders groß.“
Ein vielgenanntes Beispiel: Pflegekräfte. Das Politmagazin Berlin direkt zitiert eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen. Dort errechneten die Forschenden, dass 860.000 Pflegekräfte aus ihrem Beruf ausgestiegen sind. Sechzig Prozent wären allerdings bereit, zurückzukehren, wenn sich Arbeitsbedingungen und Lohn verbesserten. Hochgerechnet wären das 260.000 Vollzeitkräfte.
Bedeuten höhere Löhne auch höhere Gebühren, Beträge und Zahlungen? Jäger findet: „Tatsächlich ist die Debatte über den Fachkräftemangel eigentlich eine gesellschaftliche Debatte darüber, in welchen Bereichen wir unsere Ressourcen einsetzen möchten. Es gibt nichts umsonst. Das ist der Kern. Der empfundene Fachkräftemangel ist nur ein Symptom des zugrunde liegenden Problems: Die Verteilung knapper Ressourcen.“