Das deutsche Wahlrecht wird geändert. Vorige Woche hat der Bundestag eine Wahlrechtsreform beschlossen. Der Entwurf der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP erreichte die erforderliche einfache Mehrheit: 399 Abgeordnete stimmten mit „Ja“, 261 mit „Nein“, 23 enthielten sich.
Grund für die Reform ist das stetige Wachsen des Bundestags. Das Bundeswahlgesetz sieht eine Richtgröße von 598 Abgeordneten vor. Tatsächlich sind es derzeit 736. Deutschland leistet sich damit das größte demokratisch gewählte Parlament der Welt. Der Grund dafür ist das System aus Überhang- und Ausgleichsmandaten. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimme gewinnt, als ihr Sitze nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustehen. Damit die Überhangmandate die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Fraktionen nicht durcheinanderbringen, bekommen die anderen Fraktionen sogenannte Ausgleichsmandate. Das hat bisher dazu geführt, dass immer mehr Abgeordnete in den Bundestag eingezogen sind.
Die Zahl der Bundestagssitze wird ab der nächsten Legislaturperiode begrenzt. Das neue Wahlrechtsgesetz der Ampel-Koalition sieht eine Verkleinerung des Bundestags auf dauerhaft 630 Abgeordnete vor. Überhang- und Ausgleichsmandate sollen wegfallen. Eine Partei bekommt jetzt nur noch so viele Sitze, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Hat sie mehr Wahlkreise gewonnen, als ihr Sitze zustehen, bekommen die Wahlkreissieger:innen mit den jeweils schlechtesten Wahlergebnissen ihrer Partei keinen Platz im Bundestag. Allein der Sieg in einem Wahlkreis bedeutet also nicht mehr automatisch, dass man ein Mandat errungen hat.
Zudem gilt eine strikte Fünf-Prozent-Klausel. Die sogenannte Grundmandatsklausel entfällt. Durch sie konnten Parteien in den Bundestag einziehen, auch wenn sie unter fünf Prozent lagen – nämlich immer dann, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewannen. Aktuell ist etwa Die Linke wegen drei direkt gewonnener Mandate in Fraktionsstärke im Parlament vertreten – obwohl die Partei bei der vergangenen Bundestagswahl mit 4,9 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Auf Basis der Grundmandatsklausel erhielt Die Linke jedoch Parlamentssitze entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil – weil sie 2021 genau drei Direktmandate gewann. Zukünftig geht das nicht.
Ohne die Grundmandatsklausel säße die Linkspartei jetzt nicht als Fraktion im Bundestag. Linke-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte sprach angesichts der Änderungen bei der Grundmandatsklausel von einem „schäbigen“ Vorgehen der Koalition gegen politische Gegner: „Es ist nichts anderes als die politische finale Bekämpfung und der Versuch, die Linke zu zerstören. Es ist ein atemberaubender Vorgang.“ Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach von einem „offenen Anschlag auf die Linke“.
Die Wahlrechtsreform bringt ungewöhnliche Allianzen auf den Plan: Neben der Linken geht nämlich auch die CSU auf die Barrikaden: Auch ihre Überlebensgarantie ist in Gefahr. Die CSU tritt zwar nur in Bayern an. Weil sie aber eine eigenständige Partei ist, muss sie bundesweit gerechnet auf mehr als fünf Prozent der Stimmen kommen. Bei der vergangenen Bundestagswahl waren es 5,2 Prozent. Sollte sie die Fünf-Prozent-Hürde reißen, nützen ihr künftig auch ihre aktuell 45 Direktmandate nichts. Sie wäre nicht mehr im Bundestag vertreten.
Entsprechend hitzig verlief die Bundestagsdebatte. Bei der Aussprache vor der Abstimmung war der Ton oft gereizt, die Opposition griff das Regierungsbündnis scharf an. Alle Redner:innen wurden durch Zwischenrufe gestört, teils mussten Abgeordnete am Mikrofon deutlich lauter als üblich sprechen, um gehört zu werden. Der Vorsitzende der CSU im Bundestag, Alexander Dobrindt, sprach von einem „Akt der Respektlosigkeit“. Der Gesetzentwurf sei gegen die Oppositionsparteien gerichtet, um einen Machtanspruch der Ampel-Koalition zu zementieren. Die Ampel stelle damit das „Existenzrecht der CSU infrage“ und wolle die Linkspartei „aus dem Parlament drängen“. Auch deshalb sei der Entwurf „falsch, fehlerhaft und verfassungswidrig“. CDU, CSU und Linkspartei haben bereits angekündigt, das neue Wahlrecht vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.
Das Problem: Das Wahlrecht ist nicht im Grundgesetz verankert, Koalitionen können es auch ohne Beteiligung der Opposition ändern. Das bedeutet, eine andere Regierung könnte das Wahlrecht in der nächsten Legislatur wieder reformieren. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU Friedrich Merz hat dies sogar schon angekündigt: Er sprach von einer „Beschädigung des Vertrauens in unsere Demokratie“, der man zu keinem Zeitpunkt zustimmen werde: „Wir werden jederzeit jede Gelegenheit nutzen, das wieder zu ändern.“