Im Jahr 1973 verankerte der Oberste Gerichtshof der USA mit seinem Grundsatzurteil Roe v. Wade ein verfassungsmäßiges Recht aller Frauen auf Abtreibungen. Jetzt steht eine historische Zäsur an – denn der Supreme Court könnte das Urteil bald aufheben. Konservative Politiker und Abtreibungsgegner kämpfen schon seit Jahrzehnten gegen Roe v. Wade. Ihre Chancen auf Erfolg haben sich deutlich erhöht, seit der damalige Präsident Donald Trump in seiner Amtszeit drei konservative Verfassungsrichter ernennen konnte. Das konservative Lager hat am Supreme Court seitdem eine Mehrheit von sechs der insgesamt neun Richterinnen und Richter – und eben diese konservative Mehrheit Roe v. Wade könnte jetzt kippen. Eine Entscheidung wird für Juni erwartet. Das US-Magazin Politico machte den Entwurf öffentlich.
Es geht um extrem viel, berichtet die Journalistin Lindsay Beyerstein im Journal für Internationale Politik und Gesellschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sollte der Entwurf in seiner jetzigen Form veröffentlicht werden, würde Abtreibung in mindestens 26 Bundesstaaten zu einer Straftat. In manchen davon gelten noch Abtreibungsverbote aus der Zeit vor dem Grundsatzurteil Roe v. Wade. In insgesamt 13 Staaten, darunter Texas, gibt es sogenannte „trigger laws“, die im Falle der Aufhebung von Roe v. Wade die meisten Schwangerschaftsabbrüche sofort zu einer illegalen Handlung machen würden.
Das alles könnte lange Haftstrafen für etwa Ärztinnen und Ärzte zur Folge haben, die eine Abtreibung vornehmen. Auch Menschen, die den Frauen dabei helfen, etwa überhaupt zu einer Abtreibungsklinik zu kommen, würden dann Strafen drohen. In Texas etwa kann das unter Umständen zu lebenslanger Haft führen.
Die Konservativen vertreten damit nicht die Mehrheit der Menschen in Amerika. 80 Prozent der US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner unterstützen in allen oder den meisten Fällen Abtreibungen, so eine Gallup-Umfrage. Ein anderes Institut, das Pew Research Center, stellte fest, dass knapp 60 Prozent der Erwachsenen finden, dass Abtreibung legal sein sollte.
Das Ende des Abtreibungsrechts sei erst der Anfang vom Ende, sagt die Historikerin Annika Brockschmidt. Sie prognostiziert: Die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Kriminalisierung von Homosexualität und das Ende des Rechts auf Verhütungsmittel stünden als nächstes auf der christlich-nationalistischen Wunschliste. Der Jurist und Buchautor Andrew L. Seidel sieht die Gründe für den Rollback vor allem vor dem Hintergrund der religiösen Rechten in den USA: „Die religiösen Extremisten, die den Kreuzzug gegen körperliche Autonomie orchestriert und geholfen haben, den Obersten Gerichtshof unter Trump zu besetzen, werden nicht zufrieden sein, bis Abtreibung und Verhütungsmittel in den ganzen Vereinigten Staaten verboten sind. Sie werden nicht zufrieden sein, bis sie ihre christliche Nation haben. […] Ein Urteil wie dieses räumt lediglich das größte Hindernis auf dem Weg zu einer christlichen Nation aus dem Weg. Das Ende von Roe ist erst der Anfang.”
Auch hierzulande ist das Thema Schwangerschaftsabbruch ein kontroverses. Seit 1871 ist Abtreibung in Deutschland strafbar (Paragraf 218 im StGB). Unter bestimmten Voraussetzungen bleibt sie allerdings straffrei. Die Ampelkoalition ist sich noch nicht einig, ob die Regelung so bestehen bleiben soll. Einvernehmen gibt es aber bei dem Thema Paragraf 219a: Durch das sogenannte Werbeverbot ist es Praxen und Kliniken in Deutschland untersagt, ausführlich darüber zu informieren, welche unterschiedlichen Methoden es für den Abbruch gibt. Seit einer Gesetzesänderung 2019 dürfen sie aber wenigstens darauf hinweisen, dass sie den Eingriff grundsätzlich vornehmen. 219a soll nach dem Willen der Bundesregierung nun aber bald abgeschafft werden.
Im Podcast Stimmenfang des SPIEGEL berichten Frauen von ihren Erfahrungen mit Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland. Sie erzählen, wie schwer es war, überhaupt eine Praxis zu finden. Und dass das nicht nur mit mangelnder Information zu tun hat – sondern eben auch mit politischem Willen.
Wenn es um Schwangerschaftsabbrüche geht, ist die öffentliche Versorgung in Deutschland mangelhaft, zeigt die Datenbank von CORRECTIV.Lokal. Nur rund 60 Prozent aller öffentlichen Krankenhäuser mit Gynäkologie gaben an, überhaupt Abbrüche vorzunehmen. Zudem entscheidet jede Klinik für sich, wann ein solcher legitim ist und wann nicht. Auf der Correctiv-Website kann man nach Kliniken vor Ort suchen und sich anschauen, wie die Lage in den jeweiligen Regionen ist.