Bundesfinanzminister Christian Lindner hat zweieinhalb Jahre nach Regierungsantritt der Ampel ein kritisches Bild der wirtschaftlichen Lage gezeichnet. Im internationalen Vergleich sei Deutschland in Bereichen wie Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumspotenzial zurückgefallen. Dies erfordere einenKurswechsel. Die FDP spricht von „Wirtschaftswende“.
Die Bundesregierung hatte vor einer Woche ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr minimal angehoben. Sie rechnet mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,3 Prozent im Vorjahresvergleich, das sind 0,1 Prozentpunkte mehr als im Februar. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte bei der Vorstellung der Frühjahrsprognose, Deutschland sei auf dem Weg, die akuten Krisen „in den Griff zu bekommen“. Für höhere Wachstumsraten seien aber strukturelle Veränderungen nötig.
Seit Jahresbeginn gehe es etwa wegen deutlich gesunkener Energiepreise bei der Produktion „spürbar bergauf“, sagte Habeck. Mit den Energiepreisen gehe auch die Inflation weiter zurück. Das stärke die Kaufkraft der Menschen und stütze die Erholung des privaten Konsums. „Trotz dieser Hoffnungssignale machen mir die strukturellen Probleme des Standorts weiterhin Sorge“, warnte der Wirtschaftsminister. Deutschland sei gegenüber anderen Ländern in der Wettbewerbsfähigkeit abgefallen. „Weil es so gut lief, haben wir uns eine gewisse Schludrigkeit erlaubt“, sagte Habeck.
Während Habeck und Lindner bereits Anfang des Jahres ein Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft gefordert hatten, vermittelte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lange den Eindruck, die wirtschaftliche Lage des Landes werde schlecht geredet. Mittlerweile räumt auch Scholz ein, dass die Lage schwierig sei.
Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft BDA, BDI, DIHK und ZDH berichteten in einem Brief an den Bundeskanzler vom Januar dieses Jahres von ihrer Sorge um die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage, in der sich Deutschland befindet. Dem Brief angehängt ist ein Forderungspapier unter dem Titel „Durchstarten für den Standort Deutschland“ mit 10 Forderungen, unter anderem nach einem Bürokratieabbau sowie nach Abschaffung der „Rente mit 63“. Außerdem fordern die Wirtschaftsverbände eine Absenkung der Steuerbelastung für Unternehmen in Deutschland.
Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, sagte der „Süddeutschen Zeitung“ mit Blick auf die bisherige Regierungszeit der Ampel-Koalition: „Es waren zwei verlorene Jahre – auch wenn manche Weichen schon in der Zeit davor falsch gestellt wurden.“ Russwurm sieht ein deutlich verlangsamtes Wachstum als Ergebnis der wirtschaftspolitischen Versäumnisse. Deutschland verliere gegenüber vergleichbaren Ländern sowie EU-Nachbarn kontinuierliche Marktanteile.
Ähnliche Kritik äußerte auch Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) auf dem F.A.Z.-Kongress Ende April. Die Lage sei ernst, die Wirtschaft „ins Stolpern geraten“ und der Standort Deutschland mit seinen Kosten „aus der Wettbewerbsfähigkeit gerutscht“. Diese müsse wieder „in die Mitte politischen Handelns“ gerückt werden.Deutschland sei ein „renovierungsbedürftiges Haus“.
Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Yasmin Fahimi, warnte vor einer Abwanderung von Industriebetrieben aus Deutschland. Gegenüber dem „SPIEGEL“ erklärte Fahimi, „Industriebranchen, die viel Energie benötigen, haben zunehmend Probleme mit ihren Kosten. Sie verlagern schon jetzt Zukunftsinvestitionen und könnten mittelfristig im großen Stil abwandern.“
Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna
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