Bei Forschungen etwa zur Verkehrssicherheit oder in der Medizin wird der Faktor Geschlecht kaum berücksichtigt. Harald Lesch zeigt, welche Konsequenzen das hat und wo die Forschung dringend Lücken schließen muss – zum Vorteil aller. Denn Gründe gibt es genug, den Faktor Geschlecht oder Gender viel mehr als bisher üblich zu berücksichtigen – nicht nur in der Sprache.
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Weibliche Dummys? Fehlanzeige!
Für Frauen ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall schwer verletzt zu werden, fast um die Hälfte höher als für Männer. Vor allem bei Auffahrunfällen sind Frauen einem erheblich höheren Risiko ausgesetzt. Die Ursache für das ungleich verteilte Risiko ist offensichtlich: Bis heute haben die Dummys bei Crashtests fast ausschließlich die Maße und Konstitution eines durchschnittlichen Mannes. Studien mit virtuellen Modellen zeigen: Nicht nur in Form und Gewichtsverteilung unterscheiden sich die Geschlechter, sondern auch in der Stärke der Muskeln. Um Schleudertraumata bei Frauen zu vermeiden, müsste man Sitze also anders konstruieren. Um herauszufinden, wie genau, würde allerdings ein Dummy gebraucht, der die durchschnittliche Frau repräsentiert. Nur, so einen gibt es bisher nicht.
Jetzt hat Astrid Linder den Prototyp eines solchen Dummys entworfen: BioRID F50 wiegt 62 Kilo und ist 1,62 Meter groß. Die Puppe ist speziell für Untersuchungen von Schleudertraumata konstruiert. Dafür ist die Steifigkeit ihrer Wirbelsäulengelenke im Vergleich zum Durchschnittsmann um 70 Prozent reduziert. Der Prototyp ist ein Anfang: Astrid Linder kämpft dafür, dass Tests mit weiblichen Durchschnittsdummys verpflichtend werden. Schließlich geht es darum, dass man die Geschlechtsunterschiede wahrnimmt und Frauen in Autos künftig genauso sicher sind wie Männer.Unterschiede im Immunsystem
Auch in der medizinischen Forschung wird geschlechtsbedingte Diversität bisher zu wenig berücksichtigt. Studien zeigen, dass Männer ein deutlich höheres Risiko haben, an Viruserkrankungen zu sterben – so auch an Covid-19. Haben Männer dem Virus weniger entgegenzusetzen?
In Hamburg, im Leibniz-Institut für experimentelle Virologie, erforschen der Immunologe Marcus Altfeld und sein Team, wie das Immunsystem auf Virusinfektionen reagiert. Sie studieren ein Molekül, das wichtig für das Aufspüren von RNA-Viren ist: den toll-like Rezeptor, kurz TLR7. Er erkennt RNA-Viren anhand ihres Erbguts. Als Folge wird die Produktion von Interferonen angekurbelt und eine Abwehr-Kaskade in Gang gesetzt. Tatsächlich haben Männer weniger TLR7-Rezeptoren. Offenbar ist dafür das X-Chromosom verantwortlich: Männer haben nur eines, Frauen zwei. Dank des zweiten X-Chromosoms produziert das Immunsystem von Frauen mehr Rezeptoren, kann also stärker auf Viren reagieren. Evolutionsbiologisch macht das durchaus Sinn: als besonderen Schutz für das ungeborene Kind. Die geringere Menge an TLR-7 bei Männern erklärt den teilweise sehr schweren Covid-19-Verlauf. Ein „kleiner“ Unterschied – mit weitreichenden Folgen.Gleichberechtigung beim Pinkeln
Ein typisches Frauenproblem sind lange Schlangen vor den Damentoiletten. In Kiel arbeitet die Industriedesignerin Bettina Möllring an der Konzeption für ein „Frauen-Urinal“. Sie will damit eine fundamentale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beseitigen. Die Fakten sind klar: Zum reinen Wasserlassen brauchen Männer und Frauen etwa gleich lang – im Schnitt 21 Sekunden. Allerdings lassen sich für Männer auf 20 Quadratmetern sechs Urinale und zwei Sitzklos unterbringen, für Frauen dagegen gerade mal vier Sitzklos. Was das Problem noch verschärft: Frauen müssen statistisch öfter. Sie leiden häufiger als Männer an Infektionen des Blasen- und Urinaltrakts. Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Prozent der Frauen müssen regelmäßig Tampons oder Monatsbinden wechseln. Bei schwangeren Frauen ist die Blasenkapazität deutlich reduziert. Und zu guter Letzt haben Frauen häufiger Kinder im Schlepptau und brauchen dadurch länger.
Den klaren Nachteil will Bettina Möllring durch platzsparende Frauen-Urinale ausgleichen. Ihr neuestes Design: die „Kleine Ecke“. Das Design mutet futuristisch an und ist natürlich auch funktional. Die „Kleine Ecke“ soll man in der Hocke benutzen können, ohne dass es spritzt. Das Kieler Team hat berechnet, dass man auf gleichem Raum statt vier Sitzklos zwei Sitzklos und vier Urinale unterbringen könnte. Das ist zwar noch immer weniger als bei den Männern, aber wenn sich diese Testversion durchsetzt, würden die Schlangen vor den Damenklos immerhin kürzer. Und vielleicht kann dadurch endlich gleichberechtigtes Pinkeln ermöglicht werden.Weniger Patriarchat = bessere Welt?
In unserer Welt geben meist Männer den Ton an. Sie verdienen mehr als Frauen - in der EU im Schnitt 14 Prozent mehr pro Stunde - und haben die besseren Jobs. Zudem sind weltweit 78 Prozent der Männer in bezahlter Arbeit, aber nur 55 Prozent der Frauen. Ja, es scheint Männer sind privilegiert in unserer Gesellschaft. Doch tatsächlich würden nach sozialwissenschaftlichen Untersuchungen alle Menschen von einer Welt mit mehr Gender-Fairness profitieren. Doch mehr Gendergerechtigkeit in der Gesellschaft wird nicht ohne das Zutun der Männer klappen, sie müssen schließlich auf Privilegien verzichten.