Ein solcher Tag ist der 4. September 2015, als Angela Merkel entschied, Tausende Flüchtlinge, die in Ungarn zum "March of Hope" aufgebrochen waren, nach Deutschland einreisen zu lassen. Es ist eine jener Zäsuren, bei denen man klar unterscheiden kann zwischen dem Davor und dem Danach.
Symbolkraft von Worten und Bildern
Manchmal wirken solche Umbrüche gefühlt noch stärker als sie womöglich waren, gerade wenn sie sich mit Bildern und Begriffen von hoher Symbolkraft verbinden, wie beim "March of Hope". Denn die Flüchtlingsfrage hatte sich zuvor schon zugespitzt. Hunderttausende Asylsuchende waren bereits nach Deutschland gekommen, Bilder vom Leiden und Sterben vieler Flüchtlinge um die Welt gegangen. Europa zeigte sich schon seit Längerem wenig solidarisch, zunächst bekamen das vor allem die Staaten an den EU-Außengrenzen zu spüren.
Doch spätestens mit dem 4. September 2015 rückte das Thema ins Zentrum des Kontinents. Deutschland galt für viele, die Zuflucht suchten, als das "gelobte Land". Schließlich war der Zuzug der Flüchtlinge kaum mehr zu stoppen, vom Kontrollverlust war die Rede, die Willkommenskultur erfuhr Rückschläge. Migrationsfeindliche Strömungen und Parteien gewannen Zulauf, der Rückhalt für Angela Merkel als Kanzlerin und Parteichefin schwand auch in der Mitte der Gesellschaft. Ihre Parole "Wir schaffen das!" schien sich nun gegen sie zu wenden. So gibt es Gründe genug, den Blick auf jene Stunden der Entscheidung am 4. September 2015 zu richten. Schon viel ist darüber berichtet worden, in aktuellen Beiträgen, Reportagen, Dokumentationen.
Warum nun ein Dokudrama? Wie kein anderes Filmformat bietet es die Chance, Geschichte hinter den Kulissen und jenseits der bekannten Bilder erfahrbar zu machen: mit 90 Minuten Länge, der Möglichkeit, szenische Rekonstruktion und dokumentarische Elemente zu verknüpfen, dabei Augenzeugen und Experten zu Wort kommen zu lassen. Es versetzt in die Lage, Handlungsstränge zu exponieren, die in den entscheidenden Momenten des Geschehens in einer Wechselwirkung zueinander standen.
Das waren damals zum einen der sogenannte "March of Hope", der von dem jungen entschlossenen Syrer Mohammad Zatareih initiiert wurde, und zum anderen der Tagesablauf der Bundeskanzlerin, die – unterwegs in Deutschland – auf die Bilder und Nachrichten aus Ungarn reagieren musste. Als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Angela Merkel letztlich vor die Wahl stellte, die Flüchtlinge – mit Sicherheitskräften und womöglich gewaltsam – zu stoppen oder sie über Österreich weiter Richtung Deutschland ziehen zu lassen, geriet die Kanzlerin in Zugzwang.
Das Dokudrama soll die Umstände der Entscheidung so authentisch wie möglich vor Augen führen. Hat Angela Merkel aus humanitären, aus ethischen Gründen für die Aufnahme der Flüchtlinge entschieden, oder fürchtete sie ansonsten weitaus Schlimmeres, etwa eine gewaltsame Eskalation, die jeder Versuch, die Menschen auf ihrem Weg aufzuhalten, hätte auslösen können? Noch immer stehe sie hinter ihrer Entscheidung, sagt Merkel noch heute, spricht von der humanitären Notlage damals. Dennoch dürfe so etwas nie wieder vorkommen, legte sie später nach. Die Flüchtlingspolitik hat sich seither erheblich verschärft.
Einige am Geschehen Beteiligte haben sich zum Interview für den Film bereiterklärt, etwa Sigmar Gabriel, damals Vizekanzler, oder Thomas de Maizière, seinerzeit Innenminister, sowie der Merkel-Vertraute Peter Tauber, damals CDU-Generalsekretär. Andere lehnten ab, vor die Kamera zu treten, wie Horst Seehofer oder die Kanzlerin selbst. Weitere Informationen gewannen die Filmemacher durch zahlreiche Hintergrundgespräche. Mit dem Journalisten Marc Brost von der "ZEIT" wirkte – neben Sandra Stöckmann – ein Drehbuch-Autor am Film mit, der die Ereignisse akribisch mitverfolgt und protokolliert hatte. Produzent Walid Nakschbandi (AVE) bewegte neben weiteren Gesprächspartnern auch Mohammad Zatareih dazu, den eigenen Teil der Geschichte vor der Kamera zu erzählen. Im Film wird der Syrer, der seinerzeit zum "March of Hope" aufrief, auch von einem szenischen "Double" (Aram Arami) dargestellt.
Christian Twente, der unter anderem schon bei unseren ZDF-Dokudramen über Uli Hoeneß, Martin Luther und Karl Marx Regie führte, bringt auch im Film über Merkels Entscheidung seine bewährte Handschrift zur Geltung. Mit Heike Reichenwallner haben wir eine Darstellerin für Angela Merkel gewonnen, die dem Anspruch genügen sollte, dem Original so nahe wie möglich zu kommen. Wie überzeugend das gelingen kann? Wir jedenfalls sind glücklich mit der Wahl.
Der Film lädt dazu ein, den folgenreichen 4. September 2015 nachzuerleben, sich einzulassen auf die Etappen, Augenblicke, Schauplätze und Akteure des historischen Moments, aber auch auf die Frage: Gab es damals doch Spielraum, sich anders zu entscheiden? Und was hätte es bedeutet, ihn zu nutzen?