Kopfball – Hirnschäden durch (Kinder-)Fußball
Hallo Freunde der Sonne, herzlich willkommen bei MAITHINK X, Folge 18! Endlich volljährig! Und zur Feier des Tages gibt es heute Kuchen und Geschenke. Nee, Moment. Es gibt Brot und Spiele. So ist es richtig. Die Menschen lieben nämlich Brot und sportliche Auseinandersetzungen. Das Einzige, das sie noch ein bisschen mehr lieben, ist Gewalt. Und am meisten lieben sie es, wenn alles zusammenkommt. Je riskanter, desto besser. Klar, wenn mal wirklich was passiert, dann sind alle betroffen, aber ohne das Risiko würden wir erst gar nicht zuschauen.
Die Deutschen lieben Fußball. Der Deutsche Fußball-Bund ist mit seinen sieben Millionen Mitglieder und 2,2 Millionen aktiven Fußballerinnen und Fußballern in knapp 25.000 Vereinen der größte Sportverband der Welt. (MTX1; MTX2) Spätestens seit der WM 2006, unserem Sommermärchen, sind wir alle kollektiv im Fußballfieber. Leider ist Fußballfieber nicht das einzige medizinische Problem, das dieser Sport verursacht – Fußball ist ein großes Problem für unser Gesundheitssystem!
Fußball lebt von Helden, Triumphen und Geschichten. Auch wenn man sich bei manchen echt an den Turban packt. Benedikt Höwedes bekam mit Kopfverband den lustigen Namen Papa Schlumpf, Bastian Schweinsteiger führte das deutsche Team als Blutchef zum WM-Titel und Sebastian Rode wurde mit einer Platzwunde am Kopf Europa League-Sieger und musste direkt nach dem Spiel im Krankenhaus behandelt werden, Verletzungen wie diese stellen ein hohes Gesundheitsrisiko dar. (MTX3; MTX4)
Schädel-Hirn-Traumata
Denn das Hirn ist sehr weich: Es sitzt im Schädel wie so ein wabbeliger Wackelpudding. Bei jedem Schritt, den ich mache, bei jeder Kopfbewegung, wackelt es da oben ein bisschen hin und her, gut geschützt vom Schädel. Kein anderes Organ ist rundum von harten Knochen umgeben. Wenn jetzt zwei Köpfe mit Schmackes gegeneinanderknallen, knallt das Gehirn gegen die Schädeldecke, erst auf der einen, dann auf der anderen Schädelseite, was zu Bewusstlosigkeit und Gedächtnisverlust führen kann.
Dabei können einzelne Hirnzellen verletzt werden, v.a. an der Hirnrinde, also im äußeren Teil des Gehirns, das im Kontakt zum Schädel ist. So können Schwellungen, kleine Risse und Blutungen entstehen und da im Schädel nicht viel Platz ist, ist das ein Problem. Blut kann nicht abfließen und dadurch – genauso wie durch Schwellungen – können Hirnteile gequetscht werden und es kann zu Ausfällen des Hirns kommen. Schwindel, Übelkeit – im Extremfall kann man sogar sterben. Solche Folgen von Gehirnerschütterungen machen sich beim Betroffenen nicht unbedingt sofort bemerkbar. So wie bei Christoph Kramer, der sich an seinen WM-Final-Einsatz nur noch teilweise erinnern kann.
Risiko
Wissenschaftler:innen warnen schon seit Jahren vor den Risiken, nach einer Kopfverletzung einfach weiterzumachen. Aber Spieler, Verantwortliche UND Fans nehmen das oft auf die leichte Schulter. Für die ist das Wichtigste, dass das Runde ins Eckige kommt. (MTX5; MTX6)
Im American Football werden Kopfverletzungen ernster genommen. Dort gibt es schon länger das sogenannte Concussion Protocol. In jedem Spiel schickt die amerikanische Football-Liga NFL zwei sogenannte Spotter ins Stadion, die das Spiel auf der Suche nach möglichen Kopfverletzungen beobachten. Wenn ein Spieler am Spielfeldrand nach einer Kopfverletzung durchgecheckt werden muss, dann muss neben dem Ärztestab des Teams ein unabhängiger Neurologe anwesend sein, der entscheidet, ob der Spieler zurückkehren darf oder ausgewechselt werden muss. Nach dem Spiel werden die betreffenden Spieler engmaschig kontrolliert, bevor sie wieder spielen dürfen, nicht selten erst nach mehreren Wochen. (MTX7; MTX8; MTX9)
In der Fußball-Bundesliga sieht das anders aus.
Schiedsrichter:innen sind dazu angehalten, bei Kopfverletzungen das Spiel für drei Minuten zu pausieren, um die Teamärzte aufs Feld zu holen. Seit Ende 2019 soll außerdem ein sogenanntes Baseline-Screening vor der Saison für Vergleichswerte in Kategorien wie “Merkfähigkeit” und “Balance” sorgen, mit denen man die Situation vor Ort dann abgleichen kann. (MTX10; MTX11; MTX12)
Ein Problem dabei ist, dass leichte Schädel-Hirn-Traumata, wie Gehirnerschütterungen, gar nicht in drei Minuten diagnostiziert werden können. (MTX13) Wenn der Spieler ansprechbar ist, entscheiden die Mannschaftsärzt:innen, die neben dem Patientenwohl immer auch die Interessen ihres Arbeitgebers im Hinterkopf haben. Es gibt noch ein zweites, viel weiter verbreitetes Risiko, das ein regelrechtes Public Health Problem ist: also unser Gesundheitssystem belastet und damit jeden angeht, auch alle, die nicht Fußball spielen. Und das Problem heißt Kopfball.
Kopfball
Wir schauen uns jetzt mal DIE Kopfbälle an, bei denen sich niemand verletzt. Ganz normale Kopfbälle, ohne Gehirnerschütterung und scheinbar harmlos. Weswegen man auch schon im Bambini-Alter, zwischen fünf und sieben Jahren, damit anfängt. In der Fußball-Bundesliga der Herren wurde vergangene Saison jedes sechste Tor mit dem Kopf erzielt. (MTX14)
Pro Spiel köpft ein Spieler sechs bis zwölf mal. (MTX15) Bei aktuell 2,2 Millionen aktiven Fußballer:innen kommen schon viele Millionen Kopfbälle zusammen. Und all diese “Mikro-Gehirnerschütterungen” könnten möglicherweise Folgen haben, die bisher kaum jemand auf dem Schirm hat. Kopfbälle sind relativ leichte Stöße gegen den Kopf, die einzeln erstmal komplett harmlos sind, aber - wenn das über einen langen Zeitraum immer wieder passiert und das Hirn über einen langen Zeitraum immer wieder ein BISSCHEN zu arg durch gewackelt wird - kann das schwere Folgen haben. Zum Beispiel die Chronische Traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, und was dabei genau passiert, erkläre ich euch am Beispiel von Bill Gates. Der ehemalige Verteidiger vom FC Middlesbrough. Heute 78 Jahre alt und an Demenz erkrankt. Seine Frau Melinda äh Judith Gates sagt dazu:
Judith Gates spricht von der bisher größten Untersuchungsstudie zur Auswirkung von Sport auf neurodegenerative Erkrankungen: Die sogenannte FIELD-Untersuchung. (MTX16)
Gesundheitsrisiken
FIELD steht für Football’s Influence on Lifelong health and dementia risk, also der Einfluss von Fußball auf lebenslange Gesundheit und Demenzrisiko. Jedem Fußballer wurden via Computer drei demografisch vergleichbare Nicht-Fußballer zugeordnet. Die waren dann eine Kontrollgruppe von rund 23.000 Männern. Beim Vergleich der beiden Gruppen sah man zum Beispiel, dass die Ex-Fußballprofis seltener an Lungenkrebs starben, aber sie hatten ein deutlich erhöhtes Risiko an neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz, Alzheimer oder Parkinson zu sterben. Besonders auffällig war die Erhöhung bei Alzheimer. Dabei war es übrigens egal, zu welcher Zeit die Profis aktiv waren, also ist Fußball mit der Zeit nicht mehr oder weniger riskant geworden. Das Einzige, das zählte, war die Länge der Karriere. Je länger professionell gekickt wurde, desto höher ist demnach das Risiko.
2021 wurde dann eine Studie veröffentlicht, bei der unterschiedliche Positionen auf dem Spielfeld verglichen wurden. Es gibt tatsächlich unterschiedliche Risiken für neurodegenerative Krankheiten, je nach Spielerrolle. Das Risiko bei Torwarten ist am wenigsten stark erhöht. Sie haben ein 1,8-faches Risiko für neurodegenerative Erkrankungen im Vergleich zur Normalbevölkerung. Verteidiger haben das am stärksten erhöhte Risiko, und zwar ein fast 5-fach so hohes.
Und man kann schon sagen, dass Kopfbälle zu den Hauptaufgaben eines Verteidigers gehören. (MTX17)
Demenz
Aber wie kann es sein, dass leichte Stöße gegen den Kopf – was Kopfbälle nun mal sind – mit einer schwerwiegenden Krankheit wie Demenz zusammenhängen? Hier kommt die Chronische Traumatische Enzephalopathie ins Spiel. Es gibt ein Problem mit den Tau-Proteinen. Man kann sie bei lebendigen Menschen in einem Hirnscan nicht entdecken, dafür sind sie zu klein. Aber man kann CTE nach dem Tod durch Obduktion des Gehirns feststellen. 2017 wurden in einer Bostoner Studie bei 110 von 111 verstorbenen NFL-Profis CTE nachgewiesen. (MTX18) Aber in dieser Studie, die auch im Rahmen der FIELD-Untersuchung entstand, wurden die Gehirne von ehemaligen Profifußballern obduziert, die an Demenz verstorben waren. Bei fünf von sieben Fällen wurde auch CTE festgestellt. Es scheint also eine sehr häufige Begleiterkrankung zu sein. Abgesehen von Kopfverletzungen gibt es seit einigen Jahren immer mehr Hinweise, dass selbst regelmäßiges Kopfballtraining durch die einzelnen (zwar nicht so festen, aber dafür sehr vielen) Stöße das Risiko für bestimmte Hirnerkrankungen im Alter steigern könnte. Die Forschung hierzu ist recht neu und bisher haben wir nur Hinweise - aber die sind in sich konsistent. Da passt bisher leider alles zusammen, sodass man hieraus den Schluss ziehen kann: Kopfbälle, selbst bei bester Technik und ohne offensichtliche Verletzungen, könnten ein ernsthaftes gesundheitliches Risiko darstellen. (MTX19)
Unser Gesundheits- und Pflegesystem wird derzeit ohnehin schon von einer Demenzwelle überrollt - noch haben wir sehr beschränkte Möglichkeiten, mit der Krankheit therapeutisch umzugehen. (MTX20) Das Risiko für Demenzerkrankungen zu reduzieren oder vorzubeugen, ist also im größten Public Health Interesse. Und alles, was das Demenzrisiko noch weiter erhöht, können wir uns im Blick auf unser Gesundheitssystem eigentlich wirklich nicht erlauben. Wenn die Premier League, immerhin die reichste Liga der Welt, es schafft, Konsequenzen aus solchen Studien zu ziehen, warum sieht der größte Sportverband der Welt, der DFB, nicht mehr Notwendigkeit zu handeln? Obwohl Regeländerungen gar nicht so selten sind, wie Max Bierhals und erklär.
(MTX 21-31)
Der DFB argumentiert auch gerne damit, dass es ja besser wäre, wenn die Kinder “richtig köpfen” lernen, aber auch das klingt irgendwie nach ner Pseudo-Lösung - schließlich konnten die Profis aus der Studie alle super köpfen und hatten hinterher trotzdem ein erhöhtes Demenzrisiko. (MTX32)
Lieber DLF, es macht den Anschein
Science ist meins
Naja, so ist es halt. Wissenschaft wird heutzutage einfach nicht ernst genug genommen. Deshalb Shoutout an alle Forschenden die sich nicht gesehen und gehört fühlen. We see you. Ihr macht einen tollen Job, wir feiern euch, bei uns gilt: Science ist meins.