Tierversuche - Welches Leben retten wir?
Herzlich willkommen bei MAITHINK X - Die Show! Heute mal wieder ein richtiges Show-Thema rausgesucht: Mord und Totschlag! - In Gedanken! Also ganz theoretisch. Viel theoretischer als euer Lieblings-True-Crime-Podcast. Man kann die Sendung also auch vor 22 Uhr in der Mediathek gucken, niemand muss die Kinder aus dem Raum schicken.
Starten wir mal alle zusammen mit einem Gedankenexperiment - gerne zu Hause mitmachen. Gedankenexperimente machen Gelehrte schon seit jeher, und noch heute sind sie ein Dauerbrenner in Philosophie und Psychologie. Zum Beispiel das Trolley-Problem. Trolley ist Englisch und heißt Zug.
Das Trolley-Problem
Ein Zug steuert auf fünf Menschen zu, die auf ein Gleis gefesselt und damit dem Tod geweiht sind. Sie haben das NEIN-Euro-Ticket … Tschuldigung.
Aber ihr könnt sie noch retten! Ihr habt die Kontrolle über einen Schalter, der eine Weiche für den Todeszug stellen kann. Legt ihr den Schalter um, leitet ihr den Zug auf ein anderes Gleis und rettet damit die fünf Menschen – Das Problem ist, auf diesem anderen Gleis liegt auch eine Mensch. Und diese wird mit der Weichenstellung getötet. Am liebsten würdet ihr natürlich alle retten. Aber das geht eben nicht, sorry. Also was macht ihr? Legt ihr den Schalter um, oder nicht? Diskutiert gerne unter dem Hashtag #maithinkX mit.
Im Studio hat die Mehrheit des Publikums übrigens den Schalter umgelegt. Das entspricht auch dem, was man in Studien beobachtet. Werden Probanden mit dem Trolley-Problem konfrontiert, entscheiden sich, je nach Studie, 75-90% dazu, den Schalter umzulegen. (MTX1; MTX2)
Falls ihr euch dafür entschieden habt, die fünf Personen zu retten und nur den einen Menschen umzubringen: Fühlt ihr euch gut mit eurer Entscheidung? Nee, oder? Beruhigend. Das soll sich auch schlecht anfühlen. Man muss sich entscheiden, was das kleinere Übel ist, aber übel ist es in jedem Fall. Das Trolley-Problem ist ein klassisches ethisches Dilemma.
Wozu sind Gedankenexperimente wie das Trolley-Problem gut? Schließlich wird man im Alltag ja niemals einer solchen Situation begegnen. Aber die ethische Grundsatzfrage: “Darf ich jemanden töten oder den Tod eines Menschen in Kauf nehmen, um Leben zu retten?” müssen wir Menschen uns immer wieder stellen. Darf man im Krieg zivile Opfer in Kauf nehmen, wenn man dafür die Anführer:in einer Terror-Organisation ausschalten kann? Oder Triage: Wer soll als erstes auf einer Intensivstation versorgt werden, wenn nicht genug Personal für alle da ist? Und die Ethik fängt ja nicht erst bei Menschenleben an. Auch in unserem Umgang mit Tieren ist sie ein wichtiger Entscheidungsfaktor.
Tierversuche
2019 wurden in Deutschland 2,2 Millionen Tiere in der Forschung bei Tierversuchen eingesetzt, die Tiere wurden also den wissenschaftlichen Fortschritt geopfert. Laut Umfragen ist die Mehrheit der Deutschen allerdings gegen Tierversuche. Und auch in unserer Instagram-Community sind 65% dagegen. (MTX3; MTX4)
Laut Tierschutzgesetz dürfen Tiere getötet werden, wenn es einen "vernünftigen Grund" gibt. Also ist wissenschaftlicher Fortschritt ein “vernünftiger Grund”? Fangen wir mal vorne an, denn unser Verhältnis zu Tieren ist alles andere als vernünftig oder rational. Wieso erklärt Maximilian Mundt - Deutschlands beliebtester und schnellster Online-Drogenverkäufer und Experte für ethische Fragen. (MTX5)
(MTX6 - MTX18)
Zu Speziesismus gibt es übrigens auch ein schönes Gedankenexperiment: Wir haben zwei Boote, in einem sitzt ein Hund, im dem anderen ein Mensch. Beide Boote sinken und ihr könnt nur eines retten. Wen rettet ihr? Den Menschen, oder den Hund?
Das Publikum im Studio hat sich für den Menschen und gegen den Hund entschieden – auch wenn es einige Hundefreund:innen gab … Das entspricht auch den Ergebnissen einer aktuellen amerikanischen Studie - 85% der Befragten retten den Menschen. (MTX19)
Beim Dilemma Tierleben vs. Menschenleben ist für die meisten der Tod des Tieres also das kleinere Übel. Wie passt das damit zusammen, dass die meisten gegen Tierversuche sind? Werden Tierversuche nicht gemacht, um Menschenleben zu retten? Tierversuche sind etwas komplexer als dieses Boots-Dilemma. Also fangen wir mal von vorne an.
Grundlagen Tierversuche
Tierversuche sind auf den ersten Blick vielleicht kein Thema für einen gemütlichen Fernsehabend. Falls ihr jetzt enttäuscht seid und gehofft hattet, dass es hier um ein schönes Science-Thema geht; um die neuesten Aufnahmen vom James-Webb-Weltraumteleskop, um Bärtierchen, oder wenigstens um Drogen … glaubt mir, auch unser Grafik-Team hätte viel mehr Bock auf was anderes gehabt. Aber das Thema Tierversuche ist einfach viel zu wichtig, um sich nicht zumindest mit den Grundlagen auszukennen. Starten wir mal mit ein paar Zahlen und Fakten.
Im Labor unterscheidet man zwischen in vitro und in vivo Experimenten - in vitro heißt “im Glas”, also im Reagenzglas oder einer Petrischale. Da untersucht man Gewebe oder Zellen, aber keine lebenden Organismen. Das wären dann in vivo Experimente, also Versuche am lebenden Organismus - aka “Tierversuche”. Die “Anführungszeichen” stehen hier, weil Tierversuche Definitionssache sind.
2019 waren von den 2,2 Millionen Versuchstieren Mäuse mit 65% das Versuchstier Nummer eins. Danach kamen Fische, Ratten, Kaninchen und Vögel. (MTX20) Katzen, Hunde und Affen werden unter Sonstiges gezählt und machen nur etwa 0,35% Prozent aller Tierversuche aus. (MTX21) Menschenaffen unterliegen besonderem Schutz: Versuche sind nur in besonderen Ausnahmefällen erlaubt und wurden in Deutschland seit 1991 nicht mehr durchgeführt. (MTX22; MTX23)
Es gilt: je leidensfähiger das Tier, desto strenger die Auflagen, desto seltener ein Tierversuch.
Versuchstiere sind explizit nur Wirbeltiere, Kopffüßer (Kraken und Co.) und Zehnfußkrebse. Tiere, bei denen man davon ausgeht, dass sie kein Leid empfinden können, z.B. Fruchtfliegen unterliegen keinen besonderen Auflagen, weil sie nicht als Versuchstiere gelten. Versuche mit Würmern oder Insekten tauchen also nicht in der Statistik auf. (MTX24)
Aber zurück zu den Wirbeltieren, Kopffüßern und Zehnfußkrebsen - es sind in Wirklichkeit deutlich mehr als 2,2 Millionen pro Jahr. Manchmal wird zum Beispiel ein Tier getötet, um ihm Gewebe zu entnehmen. Doch weil mit diesem Gewebe nur in vitro Versuche gemacht werden, taucht dieses Tier nicht in der in vivo Statistik auf. Da muss man rund 700.000 Tiere draufrechnen, die durch solche Versuche sterben.
Versuchstiere wie Mäuse werden tatsächlich extra für die Forschung gezüchtet, mit ganz bestimmten genetischen Eigenschaften. Wenn z.B. die Mäuseeltern diese genetischen Eigenschaften nur auf die Hälfte der Nachkommen vererben können, dann ist die andere Hälfte oft für die Experimente nicht nutzbar und wird getötet. So kommen jährlich noch einmal rund vier Millionen getötete Tiere hinzu. (MTX25)
Pro Jahr sterben also tatsächlich 6,9 Mio Tiere im deutschen Forschungsbetrieb. Pro Person, also für jeden von euch, jeden im Team, auch für mich, sterben also rund sieben Tiere im Laufe unseres Lebens.
Es gibt Organisationen wie PETA, den Bundesverband der Tierversuchsgegner oder Ärzte gegen Tierversuche. Letztere sagen zum Beispiel: "Tierversuche sind grausam und wissenschaftlicher Unsinn” und setzen sich öffentlich für die Abschaffung aller Tierversuche ein.
Klar, wenn man annimmt, dass Tierversuche grausam und wissenschaftlicher Unsinn sind - wieso zum Teufel sollte man sie dann durchführen? Oder sind Wissenschaftler:innen vielleicht einfach Sadist:innen? Gehen wir doch mal auf beide Vorwürfe ein, fangen wir an mit dem letzten:
Sind Tierversuche wissenschaftlicher Unsinn?
Wie wichtig sind Tierversuche für wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, oder anders gefragt: Tierversuche - muss das sein?
Beantworten wir diese Fragen in zwei Teilen: Erstens: Was ist der Nutzen von Tierversuchen? Also welche Erkenntnisse bringen sie, wie treiben sie den wissenschaftlichen Fortschritt voran? Und zweitens: Was ist die Notwendigkeit, also gibt es Alternativen? Kann man denselben Nutzen auch ohne Tierversuche haben?
Fangen wir an mit dem Nutzen. Auf dem langen Weg von der Grundlagenforschung bis zu einer potentiellen Anwendung können Tierversuche kleine, aber unverzichtbare Schritte darstellen. Ein Beispiel: In den 90ern entdeckten Forschenden in Mäusen ein bis dahin unbekanntes Feature des Immunsystems: Sogenannte “Checkpoints”. Und ja, nur weil etwas in einer Maus beobachtet wird, muss das noch lange nix für den Menschen heißen. Denn - Spoiler - Menschen sind keine Mäuse.
Aber für die Grundlagenforschung sind diese Checkpoints sehr relevant. Man kann sie sich ein bisschen vorstellen wie eine Art Ausweis, mit dem Eindringlinge von körpereigenen Zellen unterschieden werden. Jedenfalls stellte man nicht nur fest, dass auch das menschliche Immunsystem Checkpoints hat, sondern auch, dass man mit sogenannten Checkpoint-Inhibitoren eine neue Art der Krebstherapie entwickeln konnte. Dafür gab es 2018 sogar einen Nobelpreis. Wär man ohne die Mäuse nicht drauf gekommen. (MTX26)
Viele medizinische Durchbrüche sind (auch) Tierversuchen zu verdanken: Insulin, Penicillin, Organtransplantationen, um nur einige zu nennen. (MTX27; MTX28)
Wenn also jemand behauptet, Tierversuche seien ohne Nutzen, weil Erkenntnisse aus Tierversuchen noch lange nicht auf den Menschen übertragbar sind - dann ist das falsch oder zumindest verkürzt. Denn WENN es denn mal zu einem medizinischen Durchbruch kommt, dann meist dank Erkenntnissen, zu denen man ohne Tierversuche nie gekommen wäre. Der Nutzen ist daher wissenschaftlich unumstritten. Kommen wir also zu Punkt 2:
Notwendigkeit
Laut Paragraph 7a des Tierschutzgesetzes müssen Tierversuche durch tierfreie Methoden ersetzt werden, wann immer es Alternativen gibt. Davon gibt es immer mehr: Neue in vitro Tests; Computer-Simulationen - also Rechnen statt Testen. Oder Mikro-Dosierungen, sprich ganz niedrig dosierte Testungen am Menschen und gerade in der Hirnforschung sehr viele bildgebende Verfahren.
Einer der derzeit heißesten tierfreien Ansätze sind Multi-Organ Chips, auch human on a chip genannt. Kleine Chips, die in die Hosentasche passen, auf denen Zelltypen aller Art kultiviert werden. Die funktionieren dann quasi wie Mini-Organe. Man kann sie sogar durch eine blutähnliche Flüssigkeit miteinander verbinden. So lassen sich Lungen-, Leber-, Haut- oder Darmgewebe dreidimensional nachbilden, um die Wirkung von Medikamenten zu untersuchen. Es gibt sogar die Hoffnung, dass sich die Chips eines Tages personalisieren lassen, also dass man die Zellen eines bestimmten Menschen nutzen kann. Manche Forschungsfragen könnte man damit vielleicht nicht nur genauso gut, sondern sogar BESSER untersuchen, als in Tierversuchen. (MTX29; MTX30)
Wenn man sowas hört, denkt man sich natürlich Whoo! Geil! SCIENCE! Aber man darf auch nicht naiv sein.
Das sagt Prof. Peter Loskill von dem Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut der Universität Tübingen.
Bei anderen tierfreien Methoden ist die Situation ähnlich. Allein für ihre Entwicklung braucht man mindestens vorübergehend noch Tierversuche. Computermodelle von einem menschlichen Gehirn zum Beispiel können noch lange kein echtes Hirn ersetzen, schlicht und einfach, weil so viele Mechanismen und Funktionen des Gehirns noch nicht bekannt sind.
Der Großteil der Tierversuche, nämlich 47%, wird in der Grundlagenforschung durchgeführt, deren Ziel es ist, Dinge zu verstehen, ohne wissen zu können, ob und wie diese Erkenntnis irgendwann nützlich sein könnte. (MTX31) Die Entdecker:innen der Checkpoint-Inhibitoren hatten auch gar explizit vor Krebs zu heilen, sondern wollten ursprünglich nur das Immunsystem besser verstehen.
Denn unser Immunsystem oder auch unser Gehirn mit all den komplexen Mechanismen ist noch lange nicht verstanden.
Prof. Brigitte Vollmar, Vorsitzende der DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschung ist deshalb der Meinung:
Die Vorstellung, dass Tierversuche mit dem heutigen Stand der Technik nicht mehr notwendig sind, weil man den gleichen Fortschritt mit tierfreien Methoden machen könnte, ist also leider ein Wunschdenken. Es wäre natürlich schön, wir würden keine Tiere mehr töten und trotzdem bei Krankheiten wie Alzheimer oder Krebs vorankommen. But you can’t have it all. Du musst dich für das kleinere Übel entscheiden. Klassisches Dilemma.
Die eigentliche Frage ist also nicht: Nützen Tierversuche was? Sondern was ist uns mehr wert: Tierleben oder der Nutzen ihres Todes? Aber das ist keine wissenschaftliche, sondern eine ethische Frage.
Sind Tierversuche grausam?
Halten wir fest: Tierversuche sind KEIN “wissenschaftlicher Unsinn”. Der wissenschaftliche Sinn für die Forschung ist unumstritten. Aber sind Tierversuche “grausam”?
DARÜBER lässt sich durchaus streiten. Dass wir Tiere für Laborversuche züchten und töten, um ihre Organe zu untersuchen, oder sie als Nutztiere züchten, dann melken und essen - es ist schwer, das nicht als grausam zu bezeichnen. Und dieses Leid würde ja niemand einfach so gutheißen. Die Frage ist, ob auf der anderen Seite des Dilemmas ein vielleicht größeres Leid steht. Oder um es mit dem Wortlaut des Tierschutzgesetzes zu formulieren: Sind wissenschaftliche Erkenntnisse ein “vernünftiger Grund”, um Tiere zu töten? Bei der Antwort kann uns das Trolley-Problem wieder helfen. Genauer gesagt eine Alternative davon.
Das Footbridge-Szenario:
Wir haben wieder einen Zug und wir haben wieder fünf Menschen, die an ein Gleis gefesselt sind. Nur dieses Mal gibt es keine Weiche zu einem alternativen Gleis und keinen Schalter. Aber eine Footbridge - eine Fußgängerbrücke. Auf der Brücke steht ein Mensch mit einem sehr großen und sehr schweren Rucksack. Der Rucksack ist fest verschnürt und kann nicht ausgezogen werden.
Ihr steht neben dem Mensch auf der Brücke und seht zu, wie der Zug auf die fünf Menschen zusteuert. Ihr wisst: Würdet ihr den Menschen mit dem schweren Rucksack von der Brücke auf die Gleise stoßen, wäre er schwer genug, um den Zug zum Stehen zu bringen. Die fünf Menschen wären gerettet - und der Mensch mit dem Rucksack wäre tot. Was macht ihr? Schubst ihr die Person von der Brücke - ja oder nein?
In Studien beobachtet man: Bei diesem Footbridge-Szenario entscheidet sich etwa die Hälfte der Befragten für das Schubsen. (MTX32) Rechtlich betrachtet ist die Sache allerdings ganz klar: Man darf keinen unbeteiligten Menschen opfern, selbst nicht, um andere vor dem Tod zu retten. Wir haben es hier mit einer grundsätzlich anderen Situation zu tun als beim klassischen Trolley-Problem. Es geht hier nicht um Reduzierung von Kollateralschaden, sondern um das aktive Töten eines unbeteiligten Menschen. Das darf man nicht.
Bei Tieren ist das anders. Es ist erlaubt, unbeteiligte Tiere für unseren Vorteil zu opfern. Wir werfen also, bildlich gesprochen, einige Mäuse vor den Zug, in der Hoffnung, dass er stehen bleibt, um damit die fünf Menschen zu retten. Aber das tut er eben nur VIELLEICHT!
Machen wir es konkret: Sagen wir, ich entwickle ein neues Medikament und teste eventuelle Giftigkeit oder Nebenwirkungen an Mäusen, bevor ich es in einer klinischen Studie an Menschen teste. Dann liegen auf den Gleisen die Proband:innen der klinischen Studie und der Zug sind potentielle gefährliche Nebenwirkungen. Hier muss ich also abwägen: Ist es ok, eine bestimmte Anzahl an Mäusen zu opfern, weil ich weiß, dass ich das Risiko für die Menschen dadurch beträchtlich senken kann? Hier würden wahrscheinlich viele sagen; ja, das ist vertretbar.
Anderes Beispiel: Ich bringe einen neuen Mascara auf den Markt, vielleicht auch mit gefährlichen Nebenwirkungen, den ich vorher lieber an Mäusen testen will. Da werden viele wahrscheinlich sagen: Nee, nur um jemanden vor nicht ganz perfekt geschwungenen Wimpern zu retten, opfer ich keine Tiere. Und zumindest in der EU sind Tierversuche für Kosmetikartikel auch schon seit über zehn Jahren verboten. (MTX33)
Zumal ja eh niemand NOCH einen neuen Mascara auf dem Markt braucht, siehe Sendung 15: die Tricks der Kosmetikindustrie. Aber nicht immer ist die Abwägung so einfach. Nehmen wir die Grundlagenforschung.
Grundlagenforschung
Hier liegt alles komplett im Nebel. Ich weiß nicht, wer da auf den Gleisen liegt, weil ich ja gar keine konkrete Anwendung verfolge. Ich weiß auch nicht, wie viele Mäuse ich opfern müsste, damit der Zug stehen bleibt - wenn er denn überhaupt stehen bleibt. Ich kann es nur versuchen.
Also: Tiere opfern, ohne konkret zu wissen wofür? Übel. Aber ich weiß auch, wenn ich es noch nicht versuche, bleibt der Zug definitiv nicht stehen. Ich muss also auf die Chance eines medizinischen Durchbruchs verzichten - oder die Chancen zumindest stark schmälern. Und damit die Chance auf das Heilen von Krankheiten, unter denen viele Menschen leiden und sterben. Auch übel.
Die Abwägung über das kleinere Übel ist nicht einfach. Aber ich glaube: Für die Mehrheit der Bevölkerung wäre das Opfern der Tiere das kleinere Übel.
Warum glaub ich das? Naja, weil 92% der Deutschen Fleisch essen. (MTX34) Nur, um das einmal klarzustellen: Die Mehrheit der Menschen ist dagegen, dass Tiere in Tierversuchen getötet werden, um damit potentiell Menschenleben zu retten, die Mehrheit findet es aber okay, Tiere zu töten, weil sie lecker sind. Und nochmal für eure Familien-WhatsApp-Gruppe zuhause: Menschen brauchen zum Überleben kein Fleisch.
Das Trolley-Problem für Fleischessen sieht also so aus: Um die fünf verzweifelten Fleischesser:innen vor einem riesigen Block Tofu zu retten, der da als Zug verkleidet auf sie zurast, werden zehn Hühner, ein Schwein und vielleicht noch eine halbe Kuh von der Brücke geworfen. Der Tofuzug bleibt dadurch definitiv stehen.
Ihr seht, das ethische Dilemma bei Tierversuchen ist etwas komplexer, als nur das Abwägen von Tierleben gegen Menschenleben. Es lohnt sich für beide Seiten der Diskussion, die eigene Position ab und zu auf den Prüfstand zu stellen und Gedankenexperimente wie das Footbridge-Szenario können dabei helfen.
Fleischkonsum
Tierversuche machen nur einen Bruchteil der Tiere aus, die in Deutschland getötet werden. 2019 lag der Wert bei 0,9% im Vergleich zu 99,1% Tieren, die für unsere Ernährung getötet wurden. Und Fische sind da noch nicht mal eingerechnet. (MTX35)
Und da diese Zahlen nicht zusammenpassen mit der mehrheitlichen Ablehnung von Tierversuchen, ist meine Vermutung, dass die Ablehnung von Tierversuchen auf falschen Annahmen beruht, nämlich dass Tierversuche nutzlos und nicht notwendig seien.
Und ja, ich rede nur von der Mehrheit. Es gibt Menschen, die konsequent die Haltung vertreten, dass man Tierleben genauso wenig opfern darf, wie ich einen unschuldigen Menschen von der Brücke schubsen darf. Die dann natürlich auch keine Tierprodukte essen und die konsequent sagen: “Ich nehme in Kauf, dass der Fortschritt bei Krebs, Alzheimer oder anderen relevanten Bereichen gelähmt oder gestoppt wird. Das ist es mir nicht wert, wenn dafür unschuldige Tiere sterben müssen.” Und vor dieser Haltung habe ich einen Riesenrespekt.
Aber an die Mehrheit da draußen, die doch so egoistisch, oder sagen wir speziesistisch ist und das Menschenleben über das Tierleben stellt - lasst uns weiterdenken und schauen: Wie kann das kleinere Übel noch kleiner werden? Oder minimiert werden?
Denn nur weil jemand Tierversuche nicht grundsätzlich ablehnt, heißt das ja nicht, dass man am System nix ändern will. Für den ÖRR hätte ich auch einige Verbesserungsvorschläge, auch wenn ich das Prinzips für absolut richtig halte!
Replace, Reduce, Refine
Tierversuche stehen unter dem ethischen Prinzip der „3R“: Replace, Reduce, Refine - Klingt wie eine Selfcare-Routine, gemeint ist aber: Tierversuche sollen nach aller Möglichkeit vermieden, verringert und verbessert werden. (MTX36)
Laut Prof. Alena Buyx aus dem deutschen Ethikrat sollten Tierversuche nur dann zulässig werden, wenn sie absolut unerlässlich sind. Und für Dr. Natascha Drude aus der Transplantationsforschung der Charité Berlin, ist klar, dass es für aussagekräftige Ergebnisse immer noch so “viele Tiere wie nötig, aber so wenige wie möglich braucht.”
Um das einzuhalten und um so das Tierleid in der Forschung zu minimieren, müssen nicht nur Versuchstiere gut behandelt werden, sondern die wissenschaftliche Qualität der Tierversuche muss auch an höchsten Standards gemessen werden.
Wir reden hier bei MAITHINK X ja regelmäßig über “gute Studien” und “schlechte Studien”. Und darüber wie methodisch schwache Studien, die keine Aussagekraft haben, der Wissenschaft schaden. Wenn dabei aber auch noch Tiere leiden und sterben müssen, ist das natürlich absolut inakzeptabel. Und auch wenn Tierversuche streng kontrolliert werden, sollten wir immer weiter daran arbeiten, dass das Prinzip Replace, Reduce, Refine fortlaufend weiterentwickelt und verbessert wird.
In der wissenschaftlichen Forschungs-Bubble gibt es über all das einen fortlaufenden Diskurs, nur bekommt die breite, öffentliche Mehrheit davon oft wenig mit. Stattdessen wird in öffentlichen Diskussionen über Tierversuche viel Zeit und Energie verschwendet, indem über Nutzen oder Notwendigkeit von Tierversuchen diskutiert wird.
Und zur Erinnerung: der wissenschaftliche Nutzen steht nicht zur Debatte - Tierversuche helfen dem wissenschaftlichen Fortschritt. Zur Debatte steht die nichtwissenschaftliche, ethische Frage: In welchen Fällen ist dieser Nutzen mit dem Leid und dem Tod von Tieren zu rechtfertigen?
Und wenn wir schon Tierversuche machen, müssen wir sie weiterhin verbessern, sodass jedes vermeidbare Leid auch wirklich vermieden wird.