#IchBinHanna
Wissenschaft ist heute immer noch sehr männlich. Zwar sind die Hälfte aller Studierenden Frauen, aber nur ein Viertel aller Profs (MTX21). Und das hat Geschichte:
(Quellen: MTX4, 7, 11, 12, 16, 18, 25)
Aber die Probleme gehen weit darüber hinaus und das Thema ist viel komplexer als es scheint.
Denn wir haben dank Wissenschaft z.B. Impfstoffe, aber eigentlich geht es bei Wissenschaft darum neues Wissen zu generieren. Dabei ist die Relevanz nicht immer direkt erkennbar.
Das Stichwort lautet Grundlagenforschung - Forschung, die kein anderes Ziel verfolgt als irgendwas besser zu verstehen. Frei von wirtschaftlichen oder populären Interessen. Deswegen ist Grundlagenforschung auf 34 Mrd. € Steuergeld (MTX20) angewiesen, weil sie - im Gegensatz zu forschenden Firmen wie Alphabet (Inc.) oder Biontech - ja keine Gewinne macht.
Das ist ja schon ganz schön viel Geld, ne? Aber wisst ihr, was in den Laboren und Bibs dieses Landes wirklich abläuft?
Verstopfung der Wissenschaft
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat 2018 ein Video hochgeladen, in dem es an der fiktiven Promovierenden Hanna die Arbeits- und Vertragsbedingungen für Wissenschaftler:innen erklärt. Dafür gab es 2021 unter #ichbinhanna sehr viel Shit aus der Wissenschaftlichen Community, weshalb das Video inzwischen gelöscht wurde.(MTX3)
Aber warum gab’s für dieses Video mit dem nettem Sendung-mit-der-Maus-Vibe so viel Shit? In dem Video geht es darum, dass wissenschaftliches Personal, wie Hanna, nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WisszeitVG) (MTX24) nur befristet eingestellt wird. Im Gegensatz zu dem unbefristet eingestellten Laboranten Lars. Denn nach normalem Arbeitsrecht sind Ketten von befristeten Verträgen nur in Ausnahmefällen möglich. Aber warum werden Hanna und Lars vor dem Gesetz so unterschiedlich behandelt? Weil beim wissenschaftlichen Personal auch andere nachrückenden Wissenschaftler*innen die Chance auf eine wissenschaftliche Qualifizierung erhalten sollen. Deswegen soll nicht eine Generation die Stellen “verstopfen”.
Ja, ihr habt richtig gelesen, das Video spricht von Verstopfung! Denn die Wissenschaft ist ein Ort der Fluktuation und Innovation, Forschende kommen und gehen - vor allem gehen, das ist wichtig, sonst gibt es Verstopfung. WissZeitVG als Abführmittel!
Das heißt, fast jeder Job in der Wissenschaft fällt unter das WissZeitVG, und alle hangeln sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten. Außerdem gibt es noch weitere Probleme:
Probleme der wissenschaftlichen Arbeit
Problem Nr. 1: Machtmissbrauch
Klar, Machtmissbrauch kommt in der Berufswelt ja leider überall vor. Doch in der Wissenschaft ist das Ganze verschärft, weil in der Regel alle hochspezialisiert sind. Das heißt, die meisten arbeiten in einem sehr spezifischen, und damit überschaubaren Fachgebiet, in dem jede:r jede:n kennt. Wenn dich dein:e Chef:in rausschmeißt, kann sie:er dich bei allen anderen Profs schlechtreden, sodass du auch nicht so schnell einfach ne neue Forschungsgruppe suchen kannst.
Problem Nr. 2: Publikationsdruck
Das, was in der Schule Noten sind, sind in der Wissenschaft Veröffentlichungen, also Paper. Paper, die viel Impact haben, werden viel zitiert. Heißt, sie werden als Quelle genannt und dienen als Grundlage für neue Forschung.
Das Problem: Ich stehe als Forscher:in ja stark unter Druck zu publizieren bevor mein aktueller befristeter Vertrag ausläuft, damit ich danach einen neuen krieg. Durch diesen Publikationsdruck entstehen Anreize, nicht der spannendsten oder wichtigsten Forschungsfrage nachzugehen, sondern der, die am leichtesten zu publizieren ist. Es gibt also wenig Anreize für “5-Gänge-Gourmet-Forschung” und viel Anreize für “Fast-Forschung”.
Die Anzahl der Paper ist in den letzten Jahren explodiert. Von 1980 bis 2014 ist die Zahl aller Paper von 1 Million auf über 7 Millionen pro Jahr angestiegen. 72% der Paper wurden allerdings 5 Jahre nach Erscheinen kein einziges Mal zitiert (MTX10). Außerdem lassen sich viele Ergebnisse bei Überprüfung nicht reproduzieren (MTX1). Publikationsdruck führt also zu Quantität statt Qualität (MTX17).
Problem Nr. 3: Drittmittelanträge
Als Wissenschaftler:in stehst du nicht nur unter Druck, paper zu produzieren, sondern auch paper, money, an Land zu ziehen. Es geht um sogenannte Drittmittel, projektgebundenes Forschungsgeld, das hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln, also Steuern kommt. Drittmittel können aber nur über aufwendig geschriebene Forschungsanträge beantragt werden. Das heißt, wir bezahlen mit unseren Steuern Leute fürs Forschen, doch in Wirklichkeit verbringen die sehr viel Zeit damit, Drittmittelanträge über Forschung zu schreiben, anstatt die Forschung tatsächlich zu machen.
Und ein Problem fehlt sogar noch, aber dazu müssen wir uns die wissenschaftliche Karriereleiter etwas genauer anschauen.
Das Spiel mit der wissenschaftlichen Karriere
Etwa ein Drittel der Promovierenden geben eine Professur als Berufsziel an, aber nur 3% erreichen sie (MTX14). Gut, auch in ner Firma schaffen es nur die wenigsten bis ganz oben. Aber wenn du es in ner Firma nicht weiter hoch schaffst, bleibst du halt stehen auf der Karriereleiter. In der Wissenschaft fliegst du raus. Es gibt praktisch keine unbefristeten Stellen im akademischen Mittelbau. Hoch oder raus (MTX6).
Im besten Fall finden die Aussteiger:innen dann mit Mitte 30 oder 40 noch einen Job in der freien Wirtschaft. Was trotzdem ne schöne Verschwendung von Mühe und Steuergeld ist, denn außerhalb der Wissenschaft ist jede Qualifizierung jenseits des Doktors meist völlig unnötig. Und bei Arbeitgeber:innen sind “überqualifizierte” Academia-Aussteiger nicht unbedingt beliebt (MTX14).
Also gamblen. Nachwuchswissenschaftler:innen müssen das Risiko auf sich nehmen, im worst case weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft gebraucht zu werden.
Für Frauen gibt es noch ein zusätzliches Problem. 83% der Promovierenden sind kinderlos (MTX9). Nach der Doktorarbeit wird’s nur schlimmer mit der Vereinbarkeit von Familie und Job. Für viele Männer bedeutet das im Zweifelsfall, dass sie einfach “nur” keine Zeit für ihre Kinder haben. Um die kümmert sich dann eben die Partnerin. Frauen fehlt aber dieser Support oft.
Anmerkung: W2 enthält hier auch C3 und W3 C4. Die befristeten W2-Stellen (tenure track, Nachwuchsgruppe) wurden abgezogen.
Deswegen sind es überproportional viele Frauen, die verloren gehen. Die meisten Frauen verlassen die Wissenschaft nach der Promotion, also im späten Familien-Gründungs-Alter (MTX19).
Aber das Diversitätsproblem ist größer. Promovierende kommen im Durchschnitt auf 12-13 unbezahlte Überstunden pro Woche (MTX6). Das lässt sich mit der Gründung und Versorgung einer Familie oder Schulden nicht vereinbaren. Generell musst du schon ziemlich privilegiert sein, um dir sowas wie ne Doktorarbeit überhaupt leisten zu können. Nur 57% der Promovierenden finanzieren sich hauptsächlich über ihre Arbeit an den Forschungseinrichtungen und zusätzlich 15% über ein Stipendium (MTX23). Einige lassen sich zusätzlich zur Arbeit von ihren Eltern unterstützen. Ein Grund dafür, warum Promovierende, Postdocs und Profs vor allem aus Familien mit hohem Bildungsgrad und Wohlstand stammen.
Wissenschaft ist nicht nur männlich, sondern sie ist auch ziemlich weiß und wohlhabend. Klar, das Problem dieser Ungleichheit fängt viel früher an, schon in den Grundschulen, es wird aber an den Unis verstärkt (MTX15).
Eine bessere Wissenschaft
Und es geht hier nicht “nur” um Chancengleichheit. Es geht auch um die Qualität unserer Forschung. Die Qualität leidet nicht nur unter Publikationsdruck und Zeitverschwendung, sondern auch, wenn schlaue Köpfe die Forschung verlassen oder es gar nicht erst versuchen (können). Wir wollen doch, dass es die BESTEN Leute sind, die in Level 4 ankommen und Professor:innen werden. Doch anstatt von allen potentiellen Anwärter:innen die Besten rauszufiltern, schließen wir von vorneherein ein großen Teil des Pools aus: Menschen, die sich die schlechtere Bezahlung nicht leisten können. Die auch ne Familie haben wollen. Oder die schlicht und einfach zu vernünftig sind, um das Hoch-oder-raus-Risiko einzugehen. Und viele mehr.
Also von wegen: “Fluktuation fordert die innovationskraft”. Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft BREMSEN die Innovationskraft.
Aber was machen wir denn jetzt? Viele haben resigniert akzeptiert, dass es halt so ist. Viele fühlen sich auch blöd, sich zu beschweren, weil sich das wie ein privilegiertes Akademiker:innen-Mimimi anhört. Denn klar, andere Arbeitsbedingungen sind viel prekärer. Fragt mal die Pflegekräfte. Aber es ist keiner:m geholfen, wenn wir ein Wem-geht’s-schlechter-Whataboutism-Wettbewerb aufmachen, und die Qualität unserer akademischen Forschung geht uns alle an.
Immerhin - unsere neue Regierung hat das auch erkannt und eine Reformation des WissZeitVG in den Koalitionsvertrag geschrieben. Das ist erstmal sehr gut. Aber eine sinnvolle Reform wird nicht leicht sein. Die Einführung einer Frauenquote für Professuren würde zum Beispiel nur kinderlosen Frauen helfen, solange nicht auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird.
Es hilft auch nicht einfach alle Stellen entfristen - sowas ähnliches wurde letztes Jahr in Berlin quasi über Nacht beschlossen. Die Präsidentin der Humbold-Uni Sabine Kunst sagte dazu "gut gemeint aber schlecht gemacht" und trat aus Protest direkt von ihrem Posten zurück (MTX13).
Denn es müssen natürlich auch Stellen geschaffen werden. Aber mit einfach mehr Geld ist es ja auch nicht getan, wenn es weiterhin so ineffizient genutzt wird.
Es ist kompliziert, die Beziehung zwischen Hanna und der Wissenschaft. Wir brauchen öffentliches Bewusstsein um Druck auf die Politik auszuüben. Also, schenkt dem Thema eure Aufmerksamkeit, schaut auch mal bei #ichbinhanna oder bei RespectScience vorbei, wenn ihr mehr erfahren wollt oder wenn ihr selbst Wissenschaftler:innen seid. Also, organisiert euch und informiert euch – für eine bessere Wissenschaft!