Gefährliche Gentests?
Für bis zu 175€ in ein Röhrchen spucken und Firmen verraten dir, wer du bist? Diesen Service bieten Firmen wie 23andMe, Ancestry oder MyHeritage an. Und das erfolgreich – ihre Umsätze werden sich bis Ende 2022 gegenüber 2014 schätzungsweise versechsfachen (MTX11). Ohne zuviel vorweg zu nehmen, aber eure Daten sind anderer Stelle sehr viel besser aufgehoben. Zum Beispiel in einer Stammzellspenderdatei, wie der DKMS (https://www.dkms.de), der Stefan-Morsch-Stiftung (https://stefan-morsch-stiftung.com), der deutschen Stammzellspenderdatei (https://www.deutsche-stammzellspenderdatei.de) oder der Aktion Knochenmarkspende Bayern (https://akb.de).
DNA-Basics
Aber bevor wir darüber sprechen – erstmal die DNA Basics:
Das ist das Innere einer Zelle und in diesem Zellkern sitzen unsere Chromosomen.
Chromosomen sind im Prinzip zusammen gezwirbelte, sehr lange DNA-Fäden. Menschen haben davon der Regel 23 Paare.
Die DNA ist in einer Doppelhelix-Struktur aufgebaut: Die zwei Stränge werden in der Mitte wie ein Reißverschluss zusammengehalten – und zwar durch die sogenannten Basenpaare. Es gibt vier unterschiedliche Basen: Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C).
Mit diesen vier Buchstaben ist unsere gesamte Erbinformation, also unser gesamtes Genom geschrieben. Je nachdem, in welcher Reihenfolge diese vier Basen stehen, ergibt sich der individuelle Code jedes Menschen.
Und der besteht aus rund 3,1 Milliarden dieser Basenpaare (MTX16).
Hier die drei wichtigsten Meilensteine der Genforschung, die uns zu diesem Wissen geführt haben:
(Quellen: MTX4, MTX9, MTX10, MTX14,MTX21, MTX22, MTX23, MTX25, MTX26, MTX31)
Genomuntersuchung
99% (MTX29) des menschlichen Genoms sind gleich. Wir unterscheiden uns genetisch also nur zu einem Prozent. An diesen Stellen ist dann alles bis auf ein Buchstabe gleich.
Solche Stellen heißen Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs). Und die machen ca 90% der genetischen Unterschiede (MTX29) zwischen Menschen aus. Firmen wie Ancestry, tellmegen oder 23andMe schauen sich nicht das gesamte Genom an, sondern “nur” ein paar Hunderttausend, (MTX19) die dann “stellvertretend” für das gesamte Genom stehen sollen. Das ist natürlich weniger genau als eine vollständige Genomsequenzierung, aber dafür einfacher, schneller und billiger. Und durch die Masse lassen sich leichter große Datenbanken erstellen - und die sind super wichtig, um herauszufinden, was die Unterschiede zwischen Menschen überhaupt bedeuten. Denn bloß weil ich an einer Stelle meiner DNA ein G stehen hab und, zum Beispiel du, ein A, weiß ich ja noch nicht, was das bedeutet. Hab ICH jetzt mehr Lampenfieber? Oder du?
Um diese Datenbanken anzulegen werden von möglichst vielen Menschen Speichelproben gesammelt und Fragebögen ausgefüllt. Wie groß sie sind, welche Augenfarbe sie haben, ob sie Spargelpipi riechen können oder ob sie leicht Lampenfieber bekommen.
Dann wird eine Eigenschaft ausgesucht – z.B: Lampenfieber – und SNP für SNP nach Unterschieden gesucht. Am Ende kommt z.B. 23andme auf rund 800 genetische Marker, die mit Lampenfieber assoziiert sind. Für Mai wurde anhand dieser Marker mit ihrer individuellen Speichelprobe eine Wahrscheinlichkeit für Lampenfieber von 55% errechnet.
Lampenfieber ist schlecht messbar. Aber selbst bei gut messbaren Eigenschaften wie Körpergröße gibt es TAUSENDE SNPs, die mit ihr assoziiert sind (MTX33) und jedes SNP hat jeweils nur einen wiiiinzig kleinen Einfluss. So klein, dass er leicht übersehen wird.
In den allermeisten Fällen können nur grobe Schätzungen gemacht werden. Trotzdem sagt Mais Gen-Auswertung, dass sie zu 56% Vanille lieber mag als Schokolade. UND DAS IST JA WOHL VÖLLIGER QUATSCH. Es gibt aber noch weitere Probleme:
Ungenaue Daten
1. Gene sind nur zum Teil verantwortlich für unsere Eigenschaften.
So gut wie alle erblichen Eigenschaften sind nicht nur von unseren Genen, sondern auch von unserer Umwelt abhängig. Fleißiges Training fördert Sportlichkeit. Unterernährung mindert Intelligenz (MTX27). Rauchen beeinträchtigt das Riechvermögen usw.
2. Statistiken sind keine Individualaussagen.
Statistiken sind zwar gut, um große Menschengruppen zu beschreiben, bei Einzelpersonen können sie aber oft daneben liegen. (MAITHINK X - Folge 04)
Denn:
a) Wo du herkommst, ist relativ
Die SNPs werden mit SNPs aus einer Referenzgruppe verglichen und je nachdem, wo die Menschen dieser Referenzgruppe leben, werden genetische Ähnlichkeiten in unterschiedlichen Ländern gefunden. Diese Gentests sagen uns also nicht, “wo unsere Gene herkommen”, sondern geben an, wo aktuell Menschen leben, mit denen wir genetische Überschneidungen haben. Sowas wie deutsche oder “vietnamesische Gene” gibt es so nicht. Es gibt nur Speichelproben aus Deutschland oder eben Vietnam.
b) Die Daten sind ungenau
Bei genauem Hinsehen in die Datenauswertung ist die sogenannte “Konfidenz”, also die Sicherheit bzw. Unsicherheit, mit der uns 23andme hier Daten präsentiert, standardmäßig bei 50% (MTX2) und der Anbieter bezeichnet sie selbst als “spekulativ”.
Hier zeigt die Auswertung an: Unser Head-Autor Patrick ist zu 82% deutsch-französischer, zu 10,4% aschkenasisch jüdischer und zu 3,3% osteuropäischer Herkunft.
Wird der Konfidenzintervall auf 90% gestellt, werden die Aussagen sehr viel vager. Dann ist Patrick nicht mehr zu 82% deutsch-französischer Herkunft, sondern nur noch zu 38,8%. Über 40% ist er einfach nordwesteuropäisch und 10% Prozent seines Erbguts kommen einfach nur noch irgendwo aus Europa.
Verwandte finden
Verwandte zu finden funktioniert dagegen wirklich sehr gut. Allerdings ergibt sich daraus auch ein anderes, ganz schön krasses Problem.
Der Golden State Killer war ein Serienmörder. Er hinterließ an etlichen Tatorten in Kalifornien seine DNA, war aber in keiner kriminaltechnischen Datenbank auffindbar. Erst als seine DNA bei einem kommerziellen Anbieter hochgeladen wurde, konnte ein Verwandtschaftsmtach gefunden werden, dass mit zusätzlichen Infos zu dem Killer geführt hat (MTX26).
Wissenschaftliche Analysen schätzen, dass es ausreicht, wenn ca. 2% einer Bevölkerungsgruppe in einer solchen Datenbank vertreten sind, um JEDEN Menschen mit dieser Stammbaummethode und ein wenig klassischer Polizeiarbeit schnappen zu können. Schätzungsweise wären schon jetzt 60% aller europäischstämmigen Amerikaner:innen, also fast 120 Millionen Menschen, auf diese Art identifizierbar (MTX12).
Sobald die Gen-Datenbanken also groß und divers genug sind, könntet ihr theoretisch über eure Verwandten identifiziert werden.
Die Ergebnisse können dann mit weiteren Infos verknüpft werden. In Deutschland ist es zwar verboten (MTX1), medizinische Untersuchungen ohne ärztliches Personal weiterzugeben, trotzdem erheben die Firmen diese sehr privaten Informationen. 23andMe entwickelt mit den Daten gerade sogar eigene Medikamente (MTX5).
Wem nützt deine DNA?
Wir stellen also gratis unser Genmaterial zur Verfügung, bezahlen noch dafür und im Austausch bekommen wir weitgehend unnütze Informationen, die nicht in falsche Hände geraten sollten.
Trotzdem können die Daten zur Beobachtung von Bevölkerungsgruppen sehr spannend sein. In großen Datenbanken mit genetischen Infos können Korrelationen und Muster erkannt werden, mit denen zum Beispiel Krankheiten besser verstanden werden können.
Deswegen gibt es Datenbanken wie die UK Biobank, die solche Daten sammelt, um sie anonymisiert der Forschung frei zu Verfügung zu stellen. Die haben aber nicht wie Ancestry 20 Millionen Datensätze, sondern nur 500.000 (MTX32).
Dass DNA-Proben die genetische Forschung weiterbringen, ist unbestritten. Wer davon profitiert - ein privates Unternehmen oder die freie Forschung - ist aber nochmal ne ganz andere Frage. Deshalb sollten wir vielleicht einfach aufhören, uns von den Werbeversprechungen solcher Firmen verarschen zu lassen und uns stattdessen klar machen, dass DAS hier viel näher an der Realität ist.