Übergewicht nimmt zu
Adipositas, auch Fettleibigkeit genannt, verbreitet sich weltweit wie eine Pandemie. Die Häufigkeit hat sich seit 1975 fast verdreifacht (MTX31).
2016 waren 39% der Erwachsenen weltweit übergewichtig. Das sind 1,9 Milliarden Menschen. 2017 starben rund 4 Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht oder Fettleibigkeit (MTX32). Millionen Todesfälle, die vermeidbar wären, sagt die WHO (MTX31).
“Übergewicht” wird dabei meistens über den Body Mass Index definiert.
Quellen: MTX26, MTX1, MTX8, MTX34, MTX22
Der BMI ist ein vereinfachtes Modell, das sich allein nicht dazu eignet, die Gesundheit eines individuellen Menschen zu beurteilen.
Aber der BMI ist als konkreter Zahlenwert nützlich, um Trends in Bevölkerungen zu erkennen oder allgemein statistische Beobachtungen zu machen. Dank BMI können wir zum Beispiel feststellen, dass die Welt seit Jahrzehnten immer dicker wird. Oder dass Übergewicht und Adipositas längst kein Problem der reichen Länder mehr sind, sondern inzwischen auch besonders arme Länder betreffen (MTX35). Und auch, dass Adipositas das Risiko für verschiedene Erkrankungen erhöht.
Dazu gehören (MTX14):
Aber was bedeutet denn jetzt “erhöhtes Risiko” konkret? Sprechen wir von ner Erhöhung von 10%? 100%? 1000%? Dazu sind meistens auch von seriösen Quellen keine konkrete Zahlen zu finden. Da steht dann nur, das Risiko wird erhöht oder die Zahlen sind nicht sehr genau.
Das angegebene Krebsrisiko schwankt laut WHO zum Beispiel zwischen einer 1-2 fachen Erhöhung (MTX32, MTX7). Für Diabetes Typ 2 wird das Risiko bei Übergewicht laut WHO “mindestens verdreifacht”, kann sich aber nach anderen Studien auch versechsfachen (MTX25). Und bei anderen Studien kommen nochmal andere Ergebnisse raus. Woran liegt das?
Epidemiologische Beobachtung
Die Epidemiologie befasst sich mit mit “Epidemien” im weitesten Sinne. Also nicht nur sowas wie Corona in der Infektionsepidemiologie, sondern oft auch mit Feinstaub, Zigaretten, Alkohol oder halt Übergewicht. Und mit den Krankheiten, die dadurch entstehen können. Also mit modernen “Epidemien”, die nicht durch Krankheitserreger übertragen werden (MTX25).
Die Epidemiologie gehört zur medizinischen Forschung, schaut dabei aber nicht ins Innere der Menschen, oder auf biochemische Mechanismen von Krankheiten, sondern sie schaut quasi aus der Vogelperspektive und beobachtet Sachen wie Häufigkeit, Verteilung oder Ursachen und Folgen auf Bevölkerungsebene.
Zu den Methodenklassikern der Epidemiologie gehören Beobachtungsstudien. Ein mögliches Studiendesign ist eine sogenannte Kohortenstudie (MTX5). Dabei wird eine Bevölkerungsgruppe, also eine Kohorte, über Jahre oder Jahrzehnte lang beobachtet und in regelmäßigen Abständen ihr Gesundheitsstatus und BMI gemessen. So kann nicht nur beobachtet werden, ob Probanden mit der Zeit zunehmen, sondern auch, ob Übergewicht oder Fettleibigkeit bestimmte Krankheiten nach sich ziehen.
Aber Ergebnisse aus Beobachtungsstudien sind methodisch mit Unsicherheiten behaftet (MTX10).
1. Der BMI ist ja eine kontinuierliche Skala. Eine Person ist ja nicht mit BMI = 24 gesund, und dann mit BMI = 25 - ZACK! - plötzlich in ner komplett anderen Kategorie. Deswegen gibt es übrigens auch Abstufungen bei Adipositas: Moderate, starke und extreme Adipositas. Letztere gilt für einen BMI ab 40 (MTX34).
So eine extreme Adipositas ist generell mit deutlich höheren Gesundheitsrisiken verbunden als normales Übergewicht (MTX2). Je nach BMI- Cutoff, fallen die Zahlen also unterschiedlich aus. Deswegen unterscheiden sich auch die Angaben auf seriösen Infoseiten, die nur allgemein von Übergewicht / Adipositas sprechen, oder geben halt nur Bereiche an.
2. Aber das grundsätzliche, methodische Problem bei Beobachtungsstudien ist: Wir sind nicht im Labor, sondern im echten Leben. Und das ist verdammt komplex.
Sagen wir, wir wollen wissen, ob Fettleibigkeit Herzkreislauferkrankungen begünstigt. Dann unterscheiden sich die Proband:innen unserer Beobachtungsstudie ja nicht nur in ihrem BMI, sondern sie bewegen sich unterschiedlich viel. Sie trinken unterschiedlich viel Alkohol. Sie haben ein unterschiedliches genetisches Risiko. Alles Dinge, die das Risiko für Herzkreislauferkrankungen beeinflussen (MTX23). Solche Faktoren heißen Confounder.
Ein Confounder ist sowas wie ein “Störer”, also ein die Statistik verzerrender Effekt (MTX29). Diese Confounder müssen in der statistischen Auswertung rausgerechnet werden, was dazu beiträgt, dass wir die gesundheitlichen Risiken nur mit einer gewissen Unsicherheit benennen können.
All diese Gründe führen dazu, dass unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen konkreten Zahlen kommen - nicht unbedingt, weil die Forschenden schlechte Arbeit machen, sondern weil die Realität so verdammt komplex ist.
Trotzdem lässt sich nach jahrzehntelanger Forschung und dem Zusammensetzen vieler einzelner Puzzleteile sagen:
Für einige Krankheiten wie Diabetes Typ 2 ist Übergewicht ein sehr wesentlicher Risikofaktor. Der Effekt ist so stark, dass er trotz Confounder in Beobachtungsstudien sehr klar verfolgt werden kann. Bei anderen Krankheiten wie etwa Krebs ist es nicht so eindeutig (MTX4). Da sind die Effekte kleiner, sodass manche Studien kein erhöhtes Risiko feststellen, andere dann doch für bestimmte Krebsarten.
Aber fassen wir zusammen. Mit all den Differenzierungen im Hinterkopf, bleibt unterm Strich: Übergewicht ist ungesund. Je größer das Übergewicht, desto höher das gesundheitliche Risiko.
Body-Shaming
Aber das bedeutet nicht, dass wir jetzt alle Body-Shaming betreiben sollten - das bringt gar nichts. Medizinischen Fachstimmen zufolge sind Stigmatisierung und Shaming kontraproduktiv (MTX30). Je größer die Scham und das Stigma, desto wahrscheinlicher leiden die Betroffenen unter Depressionen, Angststörungen - und Essstörungen, wie Binge Eating.
Und ganz ehrlich, mit Menschen, die rauchen oder Alkohol trinken gehen wir ja auch nicht so um. Oder mit Menschen, die Sitzen. Ja, Du da hinterm Laptop, ich hab sitzen gesagt. SITZEN ist nämlich auch ein Risikofaktor für eine Reihe von Herzkreislauferkrankungen, Diabetes Typ 2 (MTX18), Depression (MTX12) und vieles mehr . Kein Witz.
Na gut, SO ist es mal wieder etwas arg überdramatisiert. Sitzen, das neue Rauchen. Ts. Wie sollte das denn aussehen?
Wenn man andere Menschen wegen ihres Gewichts beleidigt, sollte man sich nicht hinter “Gesundheit” verstecken, sondern einfach ehrlich zugeben, dass man ein Arsch ist. Oder noch besser: Es lassen.
Keine Schuld des Individuums
Was hinter Fatshaming steckt, ist sicher auch das Vorurteil, dass dicke Menschen faul oder willensschwach seien. Pft. Wenn Abnehmen leicht wäre, hätten die ganzen Boulevardzeitschriften mit ihren Trillionen Diät-Tipps die Adipositas-Epidemie doch schon längst beendet.
Food-Imperien, Fast-Food-Superspreader, haben mehr Einfluss darauf, als man vielleicht denkt.
Ungesunde Lebensmittel, kalorienreich und gleichzeitig nährstoffarm, viel Weißmehl anstatt Vollkorn, viel Zucker, oder sogenannte Leere Kalorien wie Limos und Cola. Dafür auch für ärmere Menschen erschwinglich (MTX27) - und lukrativ für die Hersteller:innen.
Beispiel: Die Freihandelsabkommen NAFTA und USMCA zwischen Nordamerika und Mexiko haben dazu geführt, dass Mexiko schön mit US-Junkfood überflutet wurde. Im Gegenzug exportiert Mexiko seitdem mehr und mehr gesundes Obst und Gemüse, das dadurch in Mexiko immer teurer wird und für die Mexikaner:innen selbst immer schwerer zu bezahlen ist (MTX15).
Ein Drittel aller mexikanischen Kinder und Jugendlichen gilt bereits als übergewichtig oder adipös, bei den Erwachsenen sind es ganze dreiviertel der Bevölkerung (MTX28)! Von wegen der Markt regelt.
Tatsächlich gibt es überall auf der Welt, auch in Deutschland, einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Einkommen und Gesundheit (MTX21), unter anderem, weil ein gesunder Lifestyle teuer ist.
Und es gibt noch viele weitere Faktoren, die in das Thema Übergewicht hineinspielen, die man gar nicht auf dem Schirm hat.
Laut der KiGGS-Langzeitstudie (MTX24) des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland - zählen zu den Risikofaktoren für Übergewicht nicht nur ungesunde Ernährung oder zu wenig Bewegung, sondern noch sehr viel mehr auch das:
Natürlich sind diese Punkte keine direkte Ursache für Übergewicht. Zum Beispiel kann Schlafmangel tatsächlich Gewichtszunahme mit verursachen, doch Flaschennahrung macht nicht unbedingt dick - das ist “nur” eine Korrelation und welche Ursachen dahinter stecken, ist viel komplexer.
Zum Beispiel kann Schlafmangel tatsächlich Gewichtszunahme mit verursachen, doch Flaschennahrung macht nicht unbedingt dick - das ist “nur” eine Korrelation und welche Ursachen dahinter stecken, ist viel komplexer.
Aber den meisten Leuten fällt als Grund für Übergewicht außer Ernährung und Sport nichts ein. Dabei ist laut RKI zum Beispiel niedriger familiärer Zusammenhalt ein stärkerer Risikofaktor als wenig körperliche Aktivität!
Deswegen zählt die Adipositas-Epidemie zu den Problemen, die nicht allein aus individueller Kraft, sondern nur mit Public Health Maßnahmen gelöst werden können (MTX22).
"Public Health ist die Wissenschaft und die Praxis der Verhinderung von Krankheiten, Verlängerung des Lebens und Förderung der Gesundheit durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft" (MTX19).
Was für Maßnahmen das sein könnten?
Länder wie Frankreich, Finnland, Irland und Norwegen haben eine Zuckersteuer eingeführt (MTX16).
In Mexiko wird der Verkauf von Süßgetränken und hochkalorischen Snacks an Minderjährige mittlerweile gesetzlich reguliert (MTX9).
In Großbritannien sollen Werbespots für Junkfood tagsüber verboten werden (MTX17).
Natürlich fühlt es sich einfacher an, wenn jede:r schön für sich selbst verantwortlich wäre. Wenn Lebensmittelhersteller, politische Entscheidungsträger, Sozial- und Bildungseinrichtungen sich einfach entspannt aus der Verantwortung ziehen könnten - aber nein:
Fatshaming ist also nicht nur asozial und kontraproduktiv, sondern auch noch ziemlich ignorant.
Body Neutrality
Die Gegenbewegung dazu ist Body Positivity, das Feiern des eigenen Körpers, sich schön finden wie man ist. Aber warum legen wir immer noch so viel Wert auf Schönheit? Warum scheißen wir nicht mehr drauf? Wenn sich jemand dick fühlt - wäre es nicht viel besser, wenn wir nicht sagen würden “Du bist hässlich” oder “Du bist schön”, Sondern “Who fucking cares?” Body Neutrality ist das Stichwort (MTX11, MTX3, MTX13).
Auch als dünne Frau, die von sowas wie “Pretty Priviledge” profitiert, wünsche ich mir, dass nicht meine Figur im Vordergrund steht, sondern das, was ich tue, denke und sage.
Vielleicht kann man Body Positivity ja auch mal ganz anders sehen. Ist doch egal, wie subjektiv schön der Körper von AUßEN aussieht, das was im INNERN los ist, ist doch so viel feiernswerter. Dear Body, this one’s for you.