Aus “Sex sells” wird “Provocation sells”
Aufmerksamkeit ist in der heutigen Medienlandschaft sehr wichtig. Die meiste Aufmerksamkeit bekommt, was am lautesten knallt. Aus “sex sells” wird “provocation sells”.
Dummerweise ist Aufmerksamkeit aber auch sehr begrenzt. Auch Wissenschaft profitiert neuerdings von dieser Aufmerksamkeit, weil Wissenschaft anscheinend auch provoziert. Sobald "die Wissenschaft" irgendwas sagt, gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die sofort Ausschlag kriegen und reflexartig nach Freiheit schreien.
Unser geschätzter Kollege Ranga Yogeshwar nennt das Erregungsbewirtschaftung.
Wissenschaftlicher Konsens
Verlangt jemand, doch bitte auf “die Wissenschaft” zu hören, kommt als Antwort oft: Die Wissenschaft gibt es nicht. Auch Robert Habeck sagte beim Digitalen Parteitag der Grünen in diesem Jahr: ”Die Wissenschaft gibt es genauso wenig wie die Politik.”
Gut - ERSTMAL stimmt das natürlich. Was es aber gibt, ist wissenschaftlicher Konsens.
Doch der wird katastrophal missverstanden. Nein, Wissenschaftlicher Konsens heißt NICHT, dass alle Wissenschaftler:innen einer Meinung sind. Aber um das wirklich zu verstehen, brauchen wir erst ein paar Basics: Wissenschaftliches Denken, auch Kritisches Denken genannt – erklärt von zwei lieben Freunden von mir:
Das waren jetzt nur drei Beispiele für kritisches Denken, aber wenn man die ablehnt, ist das quasi schon das Basis-Legoset “Flacherde”.
Ohne kritisches Denken ist kein rationaler Diskurs möglich. Das gilt auch bei gesellschaftlichen und politischen Themen. Was Wissenschaft aber einzigartig macht, ist das Wissenschaftliche Arbeiten.
Und da fehlt uns einiges an Allgemeinbildung. Wenn in der Öffentlichkeit über Studien gesprochen wird, dann meistens nur über einen kleinen Teil: die Ergebnisse. Da findet man nämlich auch immer irgendwas Schlagzeilenwürdiges.
Methoden
Merksatz für alle: Studie ist nicht gleich Studie. Eine Studie kann richtig starke Evidenz liefern, also richtig starke Belege und Beweise.
Eine Studie kann aber auch total aus der Luft gegriffener Bullshit sein. Wie Wirecard-Aktien, Scooter-Texte oder das Ego von Christian Lindner. Nur wie unterscheidet man starke Evidenz und schwache Evidenz?
Indem man sich die Methoden ansieht. Also die Art und Weise, wie die Daten erhoben und ausgewertet wurden. Nehmen wir nochmal die Schlagzeile:
Um von den Gedanken von Menschen zu erfahren, muss man sie befragen. Und man kann sich denken, wie verlässlich ein Wie-oft-denkst-du-an-Sex-Fragebogen ist. Menschen neigen selbst bei anonymen Befragungen dazu, nicht ganz ehrlich zu sein. Eine Frau, die 2 mal pro Stunde an Sex denkt, könnte weniger angeben, weil weiblicher Sexualtrieb immer noch stigmatisiert ist. Bei Männern kann es genau andersrum sein.
Man nennt diesen Effekt Social Desirability Bias, und der kann eine Befragung verzerren.
In dieser Studie hat man nicht nur Fragebögen benutzt, sondern die Proband:innen, zusätzlich mit solchen Handzählern ausgestattet. Die Spanne, wie oft die Proband:innen an Sex dachten, war riesig. Bei den Männern reichte sie von 1 mal pro Tag bis 388 mal an Sex gedacht.
So oder so ist ein Durchschnittswert bei einer Spanne von 1 bis 388 ziemlich nutzlos, ihr seht also:
Wie wichtig Methodenverständnis ist, sehen wir auch an Corona. Die STIKO sagt, wir sollen uns impfen lassen, dafür sagen diverse Einzelstimmen, dass bestimmte “Alternative Heilmittel” viel besser und sicherer seien. Wem glauben, wenn alle dabei behaupten, “die Wissenschaft” auf ihrer Seite zu haben?
Die Antwort liegt auch hier in den Methoden. Ob ein Corona-Impfstoff wirklich wirksam und sicher ist, muss man nämlich mit klinischen Zulassungsstudien belegen, die sogenannte Randomisierte Kontrollierte Studien sind.
Die randomisierte kontrollierte Studie gilt als methodisches Nonplusultra in der medizinischen Forschung und natürlich wurden alle zugelassenen Corona-Impfstoffe mit einem solchen Studiendesign getestet.
Umgekehrt kann man an schlechten Methoden auch Bullshit erkennen.
Falsifizierbarkeit und Evidenz
Beispiel: Chlordioxid-Lösung. Kann man als Desinfektionsmittel kaufen. Davon abgesehen sollte man das aber NICHT trinken, nicht darin baden und sich keine Einläufe damit machen oder was es sonst noch so an Tipps im Internet gibt, weil es angeblich bei Autismus, Krebs oder Covid-19 hilft.
Das tut es nämlich NICHT und trotzdem raten “Expert:innen” dazu, weil es ja Studien gäbe. Doch diese Studien sehen methodisch beispielsweise so aus: Man nimmt 20 Personen, die positiv auf Corona getestet wurden, gibt denen verdünntes Chlordioxid und guckt, ob sie innerhalb von einem Monat wieder negativ sind.
Aber das bringt gar nichts. Denn bei 20 Proband:innen, die nicht Hochrisikopatienten sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die so oder so wieder gesund werden, zum Glück sehr hoch. Egal ob man Chlordioxid geschluckt hat oder nicht.
Anders gesagt: So ne Studie kann man machen, man kann’s aber auch lassen, denn schlauer wird man dadurch nicht.
Chlordioxid-”Expert:innen” stellen sich als kritische Denker dar, die sich trauen “gegen den Mainstream” zu gehen. Einstein war auch gegen den Mainstream. Aber der entscheidende Unterschied ist: Er hat nicht nur wilde Thesen aufgestellt, sondern auch direkt konkrete Möglichkeiten mitgeliefert, ihn zu widerlegen. Stichwort Falsifizierbarkeit. Und Einstein wurde nicht widerlegt, sondern belegt. Mehrmals übrigens.
Wissenschaftlicher Konsens ist nicht die Wahrheit, sondern “nur” die derzeit beste Näherung. Aber allein das Hinterfragen von wissenschaftlichem Konsens macht dich nicht zu Einstein. Den Unterschied zwischen quergedachten Außenseitertheorien und einer wissenschaftlichen Revolution macht die Evidenz.
Und da Evidenz das ist, was in der Wissenschaft zählt, ist auch nicht jede Meinung gleich stark, nicht jede Stimme gleich gewichtet, wie in einer Demokratie. Sondern starke Evidenz schlägt schwache Evidenz.
Nur kriegt diese Mehrheit nicht immer die größte Aufmerksamkeit. Wer BILD-Interviews gibt oder bei Lanz sitzt, folgt nicht automatisch der stärksten Evidenz. Weil in den Medien halt andere Regeln gelten.
Und natürlich gilt das auch für mich. Ich will nicht, dass ihr mir blind vertrauen müsst, sondern dass ihr das, was ich über Wissenschaft sage, selbst einordnen könnt. Und der Schlüssel dazu ist kritisches Denken und Methodenverständnis. Methodenverständnis ist Empowerment für Laien!
Eine Studie ist keine Studie
Zweiter wichtiger Merksatz: “Eine Studie ist keine Studie”. Jede Studie ist nur ein Puzzleteil. Was zählt, ist das Gesamtbild. Starke Evidenz beruht also nicht nur auf starken Methoden, sondern auch darauf, dass unterschiedliche Studien zusammenpassen und ein konsistentes Bild ergeben.
Es gibt auch Fragen, die einfach noch zu neu sind, um sie klar zu beantworten, zum Beispiel über ein neues Coronavirus, das plötzlich die Welt auf den Kopf stellt. Das ist für Lai:innen, die sich schnell klare Antworten wünschen, frustrierend. Da kann man den Eindruck bekommen, dass es so etwas wie gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis gar nicht gibt.
Doch selbst beim Thema Corona gibt es Fakten, die geklärt sind. Über die nicht mehr gestritten wird. Z.b: Noch nie gab es Impfstoffe, deren Sicherheit und Nebenwirkungen nach der Zulassung so sorgfältig beobachtet wurden wie die Coronaimpfstoffe. Einfach weil noch nie Millionen von Menschen in so kurzer Zeit geimpft wurden. Das schafft eine nie dagewesene statistische Power, um sogar sehr seltene Nebenwirkungen überhaupt erst zu bemerken. Kurz gesagt:
Nur weil sich Wissenschaft um ungeklärte Fragen dreht, heißt das nicht, dass es gleichzeitig nicht bereits geklärte Fragen gibt. Und wenn man letztere anhand von starker Evidenz erkennt, dann ist man hier klug beraten, eben doch auf “die Wissenschaft” zu hören. Und auch wenn Sätze wie “Wissenschaft lebt von Widerspruch” ohne Kontext erstmal richtig sind, sollten wir sie nicht als pauschales Totschlag-Argument einsetzen, um wissenschaftlichen Konsens abzulehnen. Deswegen sage ich: Wissenschaft ist keine Einschränkung der Freiheit, sondern genau das Gegenteil.