Offene Kritik am russischen Präsidenten – Was passiert bei ZDFheute live?
Immer mehr russische Politiker kritisieren Präsident Putin, offen und so laut wie lange nicht mehr: Lokale Abgeordnete aus St. Petersburg fordern seine Amtsenthebung. Die Handlungen des russischen Präsidenten schadeten "der Zukunft Russlands und seinen Bürgern", so die Begründung. Sie rufen die Staatsduma deshalb auf, den Kremlchef wegen Hochverrats anzuklagen – ein offizieller Appell an das Parlament wurde bei einer Sitzung des kommunalen Rats verabschiedet.
Drohen Putin wirklich Prozess und Entmachtung? Die Aussichten auf Erfolg seien natürlich gering, erklärt Nikita Juferew – Lokalpolitiker und einer der Initiatoren aus St. Petersburg. Aber es gehe um das Signal. Auch ein anderer Bezirk habe einen Appell verfasst. Im ganzen Land sammeln er und seine Mitstreiter nun Unterschriften für eine Petition. 65 Lokalpolitiker aus mindestens 18 Bezirken, auch aus Moskau, haben inzwischen unterzeichnet.
Doch wie erfolgsversprechend ist der russische Protest gegen den Präsidenten? Könnte Putin bald die Unterstützung aus seinem eigenen Land fehlen? Und was droht den Kritikern, die sich öffentlich gegen Putin stellen? Darüber spricht ZDFheute live mit Nikita Juferew und Leslie Schübel, Russland-Expertin der Körber-Stiftung.
Vorwurf des Hochverrats – Warum ist das wichtig?
Auch in Russland wird über die Geländegewinne der ukrainischen Armee in der Region Charkiw berichtet. Die russische Führung gibt sich zwar gelassen. Aber die Rückschläge lassen das Bild der Propaganda von einer erfolgreichen "Spezialoperation" bröckeln. Noch vor Vermeldung großer Gebietsverluste der russischen Streitkräfte hatten die St. Petersburger Lokalpolitiker den Antrag auf Amtsenthebung Putins eingebracht. Nikita Juferew und sein Kollege Dmitrij Paljuga veröffentlichten das Schreiben auf Twitter:
In dem Papier erheben die Politiker eine Reihe von konkreten Vorwürfen gegen den Kremlchef. Unter anderem werfen sie dem Präsidenten die Zerstörung der russischen Armee, die Gefährdung junger und arbeitsfähiger Soldaten und die Schädigung der russischen Wirtschaft vor. Auch seien die resultierenden westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine ein Widerspruch zur geplanten "Entmilitarisierung". Darin erkennen sie "Anzeichen für Hochverrat" und fordern den Rücktritt Putins.
Inwieweit sich die Proteste auf Putin und seine Macht auswirken, bleibt offen. Nikita Juferew erklärte in den ARD-tagesthemen, "der Appell richtet sich vor allem an die Bürger Russlands die mit Putins sogenannter Spezialoperation nicht einverstanden sind."
Auch im Staatsfernsehen äußern Experten ihre Bedenken zur "Spezialoperation" des Kremls. Teils wird die Kompetenz der Regierung sogar offen angezweifelt. Im Sender NTV, der zum Staatskonzern Gazprom gehört, ging der frühere Parlamentsabgeordnete Boris Nadeschdin hart mit Präsident Putin, vor allem aber seinem Umfeld ins Gericht. Alle, die erzählt hätten, die Operation werde schnell und effektiv verlaufen, "haben uns alle hereingelegt", erklärte Nadeschdin. Er bezweifelte außerdem, dass Russland den Krieg gewinnen könne, es sei Zeit für Verhandlungen.
Russland-Experte Nico Lange sieht in den kritischen Stimmen einen Beleg dafür, dass die Propaganda in Russland nicht mehr funktioniere:
Für Lange ist es besonders bemerkenswert, dass "sogar im staatlichen Fernsehen, also einem Medium, das einer sehr, sehr intensiven Kontrolle unterliegt, jetzt abweichende Meinungen zu den vorherigen geäußert worden sind." Längst sei eine Diskussion entbrannt, auch hinter den Kulissen im Kreml, wer Putin zu der Spezialaktion geraten habe und wer gedacht habe, die Ukrainer seien schwach.
Mit Material von dpa, afp, ZDF und ARD.