Jahrhundertelang konnte eine Minderheit – erst Europa, dann die USA – die Spielregeln der Welt bestimmen. Nun geraten nicht nur abendländische Werte wie Demokratie und Menschenrechte mehr und mehr in die Defensive, sondern auch unser Wirtschaftssystem.
Ein immer mächtigeres China
Frank Sieren sieht in der gegenwärtigen politischen Weltlage eine historische Parallele zur Überwindung der Adelsgesellschaft im 19. Jahrhundert. Die Mehrheit der Bürger wollte sich damals von der Minderheit des Adels nicht mehr die Spielregeln diktieren lassen. Ebenso weigert sich heute die Mehrheit der Weltbevölkerung – allen voran China –, sich auf globaler Ebene der Hegemonie des Westens weiter unterzuordnen.
Doch wie soll Deutschland mit einem immer mächtigeren China umgehen? Auf der einen Seite ist die Volksrepublik nach den USA der wichtigste Handelspartner, auf der anderen Seite erfordert eine wertegeleitete Außenpolitik, dass man Peking mit der Verletzung der Menschenrechte konfrontiert. Kann man Milliardeninvestitionen Chinas in die heimische Infrastruktur zulassen und gleichzeitig die Verfolgung der Uiguren, die Drohungen gegen Taiwan und den gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit anprangern?
Pseudokommunistischer Turbokapitalismus
China sieht sich jedoch – anders als der Westen – nicht im Kampf zwischen Demokratien und Autokratien, sondern als Aufsteiger – und im Wettkampf mit den etablierten Mächten des Westens, so Frank Sieren. Für ein Land, das 1,4 Milliarden Menschen versorgen muss, gelten eben andere Prioritäten als die Wahrung der Menschenrechte. Allein seit 2003 hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen verzehnfacht. Die chinesische Führung versucht mit rigorosen Mitteln, diesen wirtschaftlichen Aufstieg nicht durch innere Unruhen zu gefährden.
Aus Sicht des Westens drängt sich längst die Frage auf: Steht der Kommunismus in China eigentlich kopf? Es herrscht ja tatsächlich maximale wirtschaftliche Freiheit bei minimaler politischer Freiheit. Also eine Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Philosoph und Ökonom Karl Marx einst als Ideal entworfen hatte. Was könnte eine europäische Postwachstumsgesellschaft diesem pseudokommunistischen Turbokapitalismus noch entgegensetzen?
Sieren warnt: Sollte es dem Westen in den nächsten Jahren nicht gelingen, sich den massiven wirtschaftlichen Veränderungen zu stellen und China einen legitimen Platz am Tisch der Mächtigen einzuräumen, so drohe ihm der wirtschaftliche und politische Absturz.