Die Rolle der Vereinigten Staaten als jahrzehntelange Hegemonialmacht wird schwächer. Staaten wie China, Indien, aber auch der globale Süden gewinnen an Bedeutung. Entsteht hier eine neue Rivalität der Systeme? Wie sollten wir mit gefährlichen Autokratien umgehen?
Angetrieben von ökonomischen Interessen
Die westliche Illusion, liberale Demokratien würden sich weltweit durchsetzen, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen florieren autokratische Systeme, Nationalismus und Abschottung. Staaten stehen sich als Rivalen gegenüber und kriegerische Konflikte wie der russische Überfall auf die Ukraine oder der Krieg im Nahen Osten beherrschen die Schlagzeilen.
Besonders Europa müsse sich bewusst machen, so der Politologe Ivan Krastev, dass sich die Welt gerade massiv verändert. All die Werte und Ideale, die lange Zeit Wohlstand und Sicherheit bescherten, verlieren an Bedeutung. Proklamierten die 68er noch, "wir wollen nicht so leben wie unsere Eltern", fordert die heutige Jugend, weiter so leben zu können wie die Eltern. Während sich also die jüngeren Generationen hierzulande um ihre Zukunft sorgen, macht sich in China, in Indien, aber auch im globalen Süden ein Pragmatismus breit, der sich weniger an Werten als an Interessen orientiert. Statt von Idealismus sind diese Staaten angetrieben von ökonomischen Interessen. Man will nicht länger nur ein Spielball der Systeme oder bestimmter Hegemonialmächte sein, sondern eine eigene Rolle im Weltmonopoly spielen.
Rasante Veränderungen
War die Welt früher zwar nicht unbedingt besser, so erschien sie doch geordneter. Gegenwärtig habe man den Eindruck von wachsendem Chaos, meint Richard David Precht. Für wie bedrohlich hält Krastev diese Unordnung? Zum einen, so der Politikwissenschaftler, sei es immerhin so, dass sich in den nächsten 14 Monaten über 4 Milliarden Menschen weltweit an Wahlen beteiligen könnten. Zum anderen herrsche eine deutlich beschleunigte technologische Dynamik.
Früher sicherte der technische Fortschritt eines Landes den Wohlstand für Jahrzehnte. Heute aber wird Technologie rasch repliziert und überall auf der Welt verfügbar gemacht. Die Verhältnisse in der Welt sind daher möglicherweise nicht chaotischer geworden, sondern verändern sich nur viel rasanter. Durch die Digitalisierung verbreiten sich Informationen heute nahezu in Echtzeit. Im gleichen Maße wie Nationen sich einerseits deutlicher und zum Teil aggressiver voneinander abgrenzen, rücken sie gleichzeitig aber auch dichter zusammen.
Handfeste Machtinteressen
Auch die Macht eines Staates würde heute weniger an seinem militärischen Potential gemessen, als an seiner Bereitschaft, dieses Potential auch tatsächlich einzusetzen. Viele aufstrebende Länder sehen in der Auflösung alter Machtlinien auch ihre Gelegenheit, den eigenen Rang in der Welt zu verbessern. Es geht also im Konfliktfall heute weniger um die Wahl der ideologisch betrachtet richtigen Seite als um die Frage, was mehr Vorteile verspricht.
Das egoistische Interesse im Privaten, habe sich, so Krastev, auch auf der Weltbühne etabliert. Während der Westen immer manövrierunfähiger werde, liefern sich andere Staaten ein immer schnelleres Rennen um mehr Einfluss, Macht und am Ende natürlich um mehr Profit. Während die Werte des alten Europas zum Ladenhüter mutieren, wittern andere Regionen ihre Chance und werden dabei immer unberechenbarer.
Wie aber sollen die westlichen Nationen darauf reagieren? Und wie wird der Widerspruch zwischen Wertvorstellungen und handfesten Machtinteressen am Ende zu lösen sein?