Die Welt vor dem 24. Februar 2022 schien endlich akzeptiert zu haben, welche unaufschiebbaren Aufgaben anstehen: Klimarettung, soziale Gleichheit, eine nachhaltigere und humanere Wirtschaft. Dann kam der Krieg. Stehen wir vor einer globalen Zeitenwende?
Drängende Fragen in den Hintergrund gerückt
Seit Putins Überfall auf die Ukraine reden wir fast ausschließlich über Waffenlieferungen, Sanktionen, zivile Opfer, Kriegsverbrechen und gar einen drohenden Atomkrieg. Dazu kommen die globalen Nebenwirkungen des Kriegs: Inflation, Energie-, Material- und Nahrungsmittelknappheit - manche Teile der Welt sind bereits von einer Hungerkatastrophe bedroht.
Die dringende Agenda des 21. Jahrhunderts scheint im Bombenhagel von Mariupol bedeutungslos geworden zu sein. Und mit ihr das Selbstverständnis für eine Weltgemeinschaft, freien Handel oder verbindliche Menschenrechte.
Typischer Krieg des 21. Jahrhunderts
Der russische Präsident sei besessen vom Bild eines scheinheiligen, selbstgerechten Westens, so erklärt Ivan Krastev die Psyche Putins. War die Sowjetunion noch eine Großmacht, die an eine strahlende Zukunft glaubte und glauben machte, so sieht sich Putin als Herrscher eines geschrumpften und bedeutungslosen Reiches, „ein alternder Herrscher im Kampf gegen die Zeit“, so Krastev. Und Putin kämpft auch gegen die Demografie. „Russland fehlt nicht Land, Russland fehlen Menschen. (…) Und das heißt: Aus Ukrainern und Belarussen Russen zu machen, darauf kommt es an.“
Wir würden immer noch versuchen, die Ereignisse aus der Perspektive eines kalten Krieges zu sehen. „Aber in Wahrheit ist es ein typischer Krieg des 21. Jahrhunderts, weil diese Kriege sich um die Identität drehen werden. Alle Kriege im 21. Jahrhundert werden global sein und gleichzeitig auf bestimmte Weise Bürgerkriege.“
Pulverfass mitten in Europa
Angesichts der Grausamkeit des Krieges zeigt sich mittlerweile auch in Deutschland eine große Mehrheit davon überzeugt, dass man sich dem Aggressor auf militärischer Ebene entgegenstellen muss. Ein Pulverfass mitten in Europa. Eine fundamentale Bedrohung der Demokratie. Welche Szenarien einer neuen politischen Weltordnung sind nach diesem Ereignis denkbar?
Der Osteuropa-Experte Ivan Krastev leitet das Centre for Liberal Strategies in Sofia und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien – sein Schwerpunktthema dort: "Die Zukunft der Demokratie".