Mehr als die Hälfte aller Frauen erlebt in ihrem Berufsleben sexualisierte Gewalt. Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnisse machen übergriffiges Verhalten erst möglich. Und wer sich wehrt oder den Missbrauch öffentlich macht, geht ein großes Risiko ein.
Im Oktober 2017 rückt sexuelle Gewalt durch die #MeToo-Bewegung in den Fokus der Öffentlichkeit. Gegen viele mächtige Männer aus Kultur, Politik und Wirtschaft werden Belästigungsvorwürfe laut – in den USA gegen Harvey Weinstein und Donald Trump. In Deutschland gegen den Regisseur Dieter Wedel, in Österreich gegen den Medienmogul Wolfgang Fellner.
Das Schweigen brechen
Alle stehen beispielhaft für einen besonderen Typus Chef. Sie sind erfolgreich, einflussreich und kennen keine Limits, auch nicht im Umgang mit ihren Mitarbeitenden. In ihrem Streben nach Macht überschreiten sie körperliche und seelische Grenzen. Dabei hinterlassen sie traumatisierte Betroffene, die häufig aus Scham und existenziellen Ängsten schweigen. Acht Frauen aus Kultur, Politik und Wirtschaft berichten, wie sie unter diesem Machtgehabe ihrer Chefs gelitten haben. Durch ihre Gegenwehr werden sie zu Vorbildern einer neuen Generation nach #MeToo.
Die Journalistin Raphaela Scharf arbeitet von Dezember 2018 bis Mai 2019 beim österreichischen Medienunternehmen Oe24.TV. Bereits beim Vorstellungsgespräch kommentiert der Chef des Unternehmens, Wolfgang Fellner, ihr Aussehen. Als Moderatorin soll sie immer engere Kleider, tiefere Ausschnitte, höhere Schuhe tragen. Fellner zwingt ihr unter dem Vorwand beruflicher Termine intime Essen auf. Als er sie bei einem Fotoshooting bedrängt, wendet sie sich an den Betriebsrat und wird fristlos entlassen. Dagegen geht sie vor Gericht, der Beginn einer medial begleiteten Anklageschlacht.
Doch sie ist nicht die einzige Frau in Wolfgang Fellners Fokus. Katia Wagner arbeitet 2015 mit Wolfgang Fellner zusammen. Als Raphaela an die Öffentlichkeit geht, beschließt sie, auch nicht länger zu schweigen.
Sexuelle Gewalt und Diskriminierung
Die Schauspielerin Patricia Thielemann wird 1991 von Starregisseur Dieter Wedel zu einem Casting eingeladen. Sie erzählt, wie er sie unter einem Vorwand zum Casting in die Suite bittet. Dort fällt er über sie her, würgt sie, reißt ihre Bluse herunter. Sie kann sich befreien und flüchtet. Aus Angst vor einem Karriereknick schweigt sie über den Vorfall. Erst als sie Jahre später von anderen Opfern erfährt, wagt sie sich an die Öffentlichkeit.
Bereits in den 1990er-Jahren ist sexuelle Belästigung ein Thema an der Wall Street. 1996 kommt es sogar zu einem Gerichtsprozess, bekannt als "Boom Boom Room Lawsuit". Die Unternehmen müssen Millionen zahlen und geloben Besserung.
Anfang 2000 fängt Renée Fassbender Amochaev bei einer Investmentfirma in Kalifornien an. Das Schulungsprogramm, an dem sie teilnimmt, entsteht als Folge des Prozesses. Es soll junge Frauen in der Branche fördern. Doch sie erlebt, wie die sexuelle Diskriminierungskultur erhalten bleibt, das Unternehmen sie schließlich wegmobben will.
Die FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin wird von ihrer Partei zur Spitzenkandidatin für die Europawahl 2004 benannt. Sie dient als Vorzeigefrau, das schöne Gesicht der Partei. Doch die verantwortungsvollen Posten teilen die Kollegen noch am Abend der von ihr gewonnenen Wahl unter sich auf. Bereits als Praktikantin im EU-Parlament erlebt sie sexualisierte Gewalt und später den scheinbar unumgänglichen, alltäglich Sexismus in Parlament und Partei.