Martin Müller ist kleinwüchsig und einer von rund acht Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Er will mehr wissen über Geschichte und Ursachen der Diskriminierung von behinderten Menschen und begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit.
Martin Müllers Suche nach Gründen für die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen beginnt in Gomadingen, in der ehemaligen Tötungsanstalt Grafeneck. In nur einem Jahr wurden hier über 10.000 Frauen, Männer und Kinder ermordet und verbrannt. In der menschenverachtenden Sicht der Nationalsozialisten war ihr Leben "unwert", weil sie durch ihre Behinderungen nicht arbeiten konnten und für die Volksgemeinschaft nicht produktiv waren. "Das war das Todesurteil", sagt Thomas Stöckle, Leiter des Dokumentationszentrums Grafeneck. Insgesamt wurden im "Dritten Reich" mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen zwischen 1940 und 1941 ermordet.
Behinderte Menschen als "seelenloses Fleisch" bezeichnet
Doch die Nationalsozialisten unterteilten, gemessen an der Leistungsfähigkeit eines Menschen, nicht als Erste in "wertes" und "unwertes" Leben. Auch in der Hochzeit der antiken Kulturen wurden Menschen mit Behinderungen häufig missachtet. Sogenannte missgestaltete Kinder wurden oft ertränkt, Erwachsene mit Behinderungen auf Narrenmärkten ausgestellt, verkauft und zum Betteln gezwungen. Der römische Politiker und Philosoph Seneca schrieb dazu im 1. Jahrhundert: "Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare vom Gesunden abzusondern."
Professor Dr. Dieter Mattner ist Soziologe und forscht zu den historisch-gesellschaftspolitischen Aspekten des Phänomens Behinderung. Sein Fazit: "Seit mehr als zwei Jahrtausenden werden Menschen nach ihrer Leistungsfähigkeit für die Gemeinschaft bewertet. Unter dieser Prämisse hatten Behinderte oft kein Lebensrecht."
Im Mittelalter gesellte sich zum Leistungsgedanken noch christlicher Aberglaube. Behinderte Menschen wurden von Martin Luther als "seelenloses Fleisch" oder "vom Teufel vertauschte Wechselbälger" bezeichnet.
In vorchristlicher Zeit war das noch anders. Quellen aus dem alten Ägypten belegen, dass Menschen mit Behinderungen in die Gemeinschaft integriert waren und sogar mit wichtigen Aufgaben betraut wurden. Am Hof des Pharaos Cheops lebte circa 2600 vor Christus Seneb, ein kleinwüchsiger Hofbeamter. Er leitete die Webereien des Pharaos und erreichte eine hohe gesellschaftliche Stellung. Seneb heiratete eine ägyptische Prinzessin und erhielt nach seinem Tod ein Grabmal in der Nähe der Cheopspyramide.
Inklusion vor über 50.000 Jahren Normalzustand
Seine Reise führt Martin Müller bis ins Neandertal. Die ältesten Hinweise, wie Menschen gelebt haben, stammen aus der Steinzeit. Es gab auch Urmenschen mit Behinderung, das belegen Knochenfunde. Und sie zeigen noch viel mehr: Kinder und Erwachsene, die schwerste angeborene oder erworbene Behinderungen hatten, wurden nicht sich selbst überlassen, sondern blieben in ihren Gruppen häufig integriert und wurden mit versorgt. Melanie Wunsch, Ausstellungsleiterin im Neanderthal Museum in Mettmann fasst es im Gespräch mit Martin Müller so zusammen: "Inklusion ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern war vor über 50.000 Jahren der Normalzustand."
Die Dokumentation spannt den zeitgeschichtlichen Bogen vom Beginn der Menschheitsgeschichte bis heute und zeigt: Inklusion ist möglich, wenn wir als Gesellschaft beginnen, Menschen ganz selbstverständlich so anzunehmen, wie sie sind. Die Neandertaler haben es uns vorgemacht.