Hotspot Berlin - parallel zum Zerfall der UdSSR und dem Rückzug der sowjetischen Armee aus Ostdeutschland wird die wiedervereinigte Hauptstadt zum Zentrum von Kriminalität: Ikonenschmuggel und Hehlerei, Raubstraftaten und rätselhafte Mordfälle in Serie.
Ein Sprengstoffattentat als Warnung
Als im morgendlichen Berufsverkehr des 15. März 2016 eine Autobombe mitten auf einer achtspurigen Berliner Hauptverkehrsachse detoniert, kommt der Fahrer ums Leben - ein polizeibekannter Drogendealer. Wie durch ein Wunder aber gibt es keine weiteren Verletzten. Für die Ermittler des Berliner Landeskriminalamts verdichten sich schnell alle Indizien auf eine Tat im Milieu der organisierten russischen Kriminalität.
Ein Sprengstoffattentat als Warnung an zuliefernde Dealer, den Spielregeln des schmutzigen Kokain-Geschäfts zu folgen. Und eine öffentliche Machtdemonstration der Russenmafia - die seit Jahrzehnten von Berlin aus agiert, deutschlandweit.
Das Mythos der Diebe im Gesetz
Die Russenmafia ist eine verbrecherische Organisation, die mit Kokainschmuggel, Raubstraftaten, Prostitution, Menschenhandel sowie Waffengeschäften allein in Deutschland mehr als eine Million Euro Beute am Tag erzielt. Die illegalen Geldsummen werden bevorzugt in Deutschland gewaschen, denn hier boomen Bau- und Immobiliengeschäfte. Ideale Voraussetzungen für die systematische Unterwanderung ganzer Branchen mit Geldwäsche. Zumal der Verfolgungsdruck auf kriminelle Finanzgeschäfte vergleichsweise gering bleibt. Für viele Experten gilt Deutschland genau deshalb als Mafia-Paradies.
Die Etablierung der organisierten russischen Kriminalität profitiert in den frühen 90er-Jahren vom Zerfall der staatlichen Strukturen in der früheren Sowjetunion. Die jahrzehntelange Tradition der sogenannten Diebe im Gesetz, russischer Berufsverbrecher, wurde Jahrzehnte zuvor durch ihren Widerstand in Stalins sibirischen Straflagern zum Mythos in der UdSSR. Angeheuert von neureichen russischen Oligarchen der Jelzin-Ära, erledigen die "Diebe im Gesetz" auch brutalste Verbrechen für ihre Auftraggeber. Mit dem wiedervereinigten Deutschland öffnet sich nun ein höchst lukrativer Markt für diese Banden der Russenmafia.
Mysteriöse Morde nach der Wende
Zunächst werden in Berlin ansässige russische Immigranten der 1980er-Jahre zur Zielscheibe der russischen Mafiosi. Die Berliner Polizei registriert schon 1991 eine außergewöhnliche Zunahme rätselhafter Mordfälle im Russenmilieu. Reihenweise eröffnen dubiose Import-Export-Läden in attraktiven Lagen der Westberliner City. Die Expansion der Russenmafia auf die klassischen Geschäftsfelder organisierter Krimineller erfolgt schnell und selten lautlos.
Durch ihre offene Brutalität unterscheiden sich russische Verbrecherbanden von den in Deutschland seit 2007 diskret agierenden italienischen Mafiosi. Selbst in deutschen Gefängnissen, in denen russischsprachige Häftlinge gut ein Zehntel ausmachen, besitzen sie uneingeschränktes Ansehen und nehmen hierarchische Führungspositionen ein. Die Struktur der Russenmafia unterscheidet innerhalb einzelner Banden vom Paten über die Bosse und Brigadeleiter bis zu den ausführenden "Soldaten" vier Ebenen. Die Zahl dieser in Deutschland tätigen russischen Verbrecher schätzt das Bundeskriminalamt auf aktuell 10 000 (Stand: Mai 2020).
Für deutsche Ermittler gestaltet sich die Zusammenarbeit mit russischen Polizeikollegen dabei als schwierig. Der Informationsfluss bleibt oft einseitig, die Effektivität von Interpol im Kampf gegen organisierte russische Straftäter begrenzt. Erst in den vergangenen Jahren beobachten Experten die zunehmende Bekämpfung organisierter Banden in Russland. Das internationale Engagement der Russenmafia aber hat nach wie vor Konjunktur. Berlin bleibt neben London und New York ihr Hotspot.