Der Brunnen als Tor in die fantastische Welt der Frau Holle. Sie belohnt die Fleißigen und bestraft die Faulen. Wie kein anderes Märchen offenbart die Erzählung, wie nachhaltig die bürgerliche Moralvorstellung des 19. Jahrhunderts das Frauenbild prägte.
Der Brunnen als zentrale Rolle
Frau Holle lässt es schneien, wenn sie die Betten aufschüttelt – das hat wohl jeder schon einmal gehört und sich gewundert: Wie kann das sein? Im Märchen stecken aber noch mehr Geheimnisse, die nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln sind. Eines davon ist der Brunnen – ein mit vielfachen Bedeutungen aufgeladener Ort. Am Brunnen sitzen in der germanischen Mythologie die Nornen, die für die Menschen den Schicksalsfaden spinnen. Im Märchen der Brüder Grimm ist er das Durchgangstor in eine andersartige, fantastische Welt. Doch auch in der realen Welt spielt der Brunnen eine zentrale Rolle. Brunnen sorgen seit jeher für das lebensnotwendige Wasser. Über Jahrhunderte trafen sich am Brunnen vor allem die jungen Frauen. Der Ort war eine Börse für Gerüchte und ein Fokus des sozialen Lebens.
"Frau Holle" ist vor allem eine Geschichte über zwei junge Frauen: Goldmarie und Pechmarie. Es ist das einzige bekannte Märchen, in dem nur Frauen vorkommen. Wie sahen ihre Lebenswelten aus, ihre Lebensentwürfe und Optionen?
Moralische Leitlinie für die sittsame Frau
Das Märchen entstand in der Form, wie es heute bekannt ist, in der Biedermeierzeit. Die Geschichte von der fleißigen Goldmarie und der faulen Pechmarie sollte eine Art moralische Leitlinie für die sittsame Frau sein. Für Dienstmädchen gab es später sogar ein Handbuch mit präzisen Verhaltensregeln. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Bürgertums landeten immer mehr junge Frauen vom Land in den Haushalten der wohlhabenden Städter. Im Märchen ist der Schauplatz das magische Reich von Frau Holle. Dort treffen zwei Welten aufeinander: die übermächtige Frau Holle und zwei ganz normale Mädchen, die auf die Probe gestellt werden.
Frau Holle selbst hat ihren ersten Auftritt erst spät im Märchen. Sie ist eine rätselhafte Figur. Wer eigentlich dahinter steckt, darüber streiten sich die Forscher. Einigkeit besteht darin, dass sie auf uralte weibliche Gottheiten zurückgeht. Die altrömische Diana, die germanische Freya – viel spricht dafür, dass Frau Holle mit diesen und weiteren in eine Reihe zu stellen ist. Eine Erklärung gibt es aber dafür, dass die Erinnerung an diese mythische Figur sonst weitgehend verschwunden ist: Die Mönche, die vor über tausend Jahren im heutigen Deutschland das Christentum verbreiteten, haben gründliche Arbeit geleistet.
Maria ersetzt weibliche Gottheiten
Auch in der damals neuen Religion gab es eine weibliche Figur, die im Volk bald große Verehrung genoss: die Mutter Maria. Im fränkischen Amorbach und in Würzburg kann man sehen, wie Stätten heidnischer Göttinnen umgewidmet und an ihrer Stelle Kapellen für die Mutter Gottes gebaut wurden. Nur im Alpenland hat eine späte Ausprägung des heidnischen Kultes überlebt: Im "Perchtenlauf", der zum Jahreswechsel bis heute große Zahlen von Besuchern anzieht.
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