Mirko Drotschmann geht in der zweiten Folge der Frage nach, was es heißt, wenn ein Land in so atemberaubendem Tempo umgekrempelt wird, und was das mit den Menschen macht, deren Arbeitswelt sich durch neue Technologien radikal verändert – eine Parallele zu heute.
Siegeszug der Dampflokomotive
Buchstäblich zum Motor dieser Entwicklung wurde die Weiterentwicklung der Dampfmaschine durch den Schotten James Watt. Sie sorgte im 19. Jahrhundert auch in Deutschland für ungekannten Schwung – vor allem in Gestalt der Eisenbahn. Am Anfang hatten viele Menschen noch Angst vor den "rauchspeienden Drachen", wie die Dampflokomotive wegen ihres Schnaubens und Zischens genannt wurde. Doch ihr Siegeszug war nicht aufzuhalten.
Mit der Eisenbahn wuchs der Hunger auf Eisen und Stahl, Werkstoffe, die bald Alltag und Arbeitswelt eroberten. Selbst das Schloss Neuschwanstein aus dem späten 19. Jahrhundert beruht hinter der mittelalterlichen Fassade auf modernen Eisen- und Stahlkonstruktionen. Um die immense Nachfrage bedienen zu können, wurden auch für die Industrie gigantische Bauwerke errichtet – wie die Völklinger Hütte, das weltweit einzig erhaltene Eisenwerk aus der Blütezeit der Industrialisierung.
Soziale Frage als große Herausforderung
Doch mit dem Vormarsch der Maschinen gingen auch schlechtere Lebens- und Arbeitsbedingungen einher. Das zeigte sich besonders drastisch im Ruhrgebiet, wo alte Bilderbuchlandschaften dem Fortschritt weichen mussten. Die industrielle Ausbeutung der Kohlereviere hat das Ruhrgebiet im Durchschnitt um zwölf Meter absacken lassen. Deshalb müssen heute über 200 Pumpwerke Tag und Nacht laufen, sonst würde den Menschen dort bald das Wasser bis ins Wohnzimmer stehen.
Zur größten Herausforderung des Industriezeitalters wurde die soziale Frage. Arbeitnehmerrechte mussten sich die Arbeiter erst mühsam erkämpfen, unterstützt wurden sie dabei von den ersten Sozialdemokraten im Parlament. In Sachsen, damals ein Zentrum der deutschen Textilindustrie, kam es 1903 zum Massenstreik. Das Bemerkenswerte dabei: Frauen und Männer streikten gemeinsam, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte. Landesweit führte der Arbeitskampf der rund 8000 Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in Crimmitschau zur Beschwörung einer solidarischen Arbeiterklasse.
Neue Industrien als Schrittmacher der Wirtschaft
Während die Mehrheit der Deutschen in Mietskasernen in den wachsenden Großstädten lebte, ließen sich die Firmengründer, Stahlbarone und Eisenbahnkönige Villen und ganze Schlösser bauen, wie man sie nur von den Landsitzen des Adels kannte. Wie kein zweiter Bau symbolisiert Alfred Krupps Villa Hügel in Essen Macht und Pracht dieses neuen Unternehmertums, das auch dank enger Kontakte zum preußischen Herrscherhaus florierte.
Mit der Reichseinigung 1871 startete Deutschland in eine zweite fulminante Phase der Industriellen Revolution. Nach Kohle und Stahl wurden jetzt neue Industrien wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie zu Schrittmachern der Wirtschaft. Dank der engen Zusammenarbeit mit Forschung und Wissenschaft entstanden viele erfolgreiche Produkte: Ob synthetischer Farbstoff, Schmerztablette, Zündkerze oder Kaffeefilter – ohne die zahlreichen Erfindungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wäre unser heutiger Lebensstil nicht denkbar.
Technischer Fortschritt hat seinen Preis
Vieles mutet erstaunlich fortschrittlich an: Bereits um die Jahrhundertwende entwickelte Ferdinand Porsche beispielsweise den ersten serienmäßigen Hybrid-Antrieb mit elektrischem Radnabenmotor. Heute steht Deutschland erneut vor einem epochalen Umbruch: Roboter, künstliche Intelligenz, all das wird kommen – oder ist schon da. Und die historischen Erfahrungen zeigen: Technischer Fortschritt hat immer seinen Preis, aber auch seine Chancen.