Nur eine falsche Bewegung

Um einen Film zu machen, braucht man Menschen, aber keine Opfer. Bei Elisa war es zunächst am schwierigsten, meine eigene Befangenheit zu überwinden. Nie war ich einer jungen Frau begegnet, die ein ähnlich schweres Schicksal getroffen hat. Es war zunächst für mich eine Aufgabe, in Elisa nicht nur das offensichtliche Opfer eines schlimmen Unfalls zu sehen, sondern den Menschen zu erkennen, einen Teenager mit eigenen Vorstellungen, einem besonderen Humor, Gefühlen und Träumen. Und ich wollte bei diesem Film auch auf keinen Fall Elisa Chirino zu einem Opfer machen.

Elisas Geschichte begegnete mir auf einem Flohmarkt im Frühjahr 2014. Ich war mit meiner Frau und meinen zwei Kindern unterwegs. Eine Reihe von Sportlern verkaufte dort Spiele und Bücher, alles aus Spenden. Der Erlös sollte Elisa zukommen. Wir kauften zwei Spiele, ein paar Kleinigkeiten.

Doch wir hatten gleich den Eindruck, nicht genug tun zu können für diese Sportlerin, die nun alle Hilfe brauchte, die sie nur bekommen konnte. Elisa, eine Bewegungskünstlerin, eine Olympiakandidatin, kann sich gar nicht mehr rühren. Vielleicht wird es ihr Leben lang so bleiben. Eine doppelte Fraktur der Halswirbelsäule mit schwerer Schädigung des Rückenmarks. Ich nahm einen Flyer mit und informierte mich über Elisas Verletzungen.

Ich musste in den folgenden Tagen oft an dieses Mädchen denken. Würde ihr nicht vielleicht die Arbeit an einem Film helfen? Nicht nur, um möglichst viel Aufmerksamkeit für ihr Schicksal zu bekommen. Das ist auch wichtig, ganz klar. Aber es ging mir auch um die Aufgabe, um die Arbeit, ihre Mitarbeit an einem Film, in dem sie selbst die Protagonistin sein sollte und mit überlegen konnte, wie wir ihre Geschichte gestalten.

Nach ein paar Tagen wandte ich mich an den Deutschen Turnerbund in Berlin, lernte Richard Eberl-Koschny kennen vom Förderverein Leistungsturnen. Er stellte den Kontakt zur Familie Chirino her. Und Ende Juni 2014 saßen wir alle in einem großen Raum der Unfallklinik Berlin Marzahn beisammen, und ich sah zum ersten Mal Elisa persönlich.

Ich hatte den Eindruck, keiner fühlte sich wohl in seiner Haut. Allen waren die Anstrengungen der letzten Monate anzusehen. Am meisten natürlich Elisa. Sie wurde seit Monaten künstlich ernährt. Das Schlucken fiel ihr schwer. Das Sprechen auch. Beim Reden sammelte sich Speichel in ihrem Mund, der immer wieder abgesaugt werden musste. Wie sie da saß, im Rollstuhl, so ausgeliefert, so schwach, spürte ich, wie mir die Tränen kamen. War nicht das, was ich vorschlug, viel zu viel für dieses Mädchen? Bedeuteten diese zusätzlichen Anstrengungen für einen Film nicht nur weitere Qualen für Elisa?

Nach einigen Treffen entschied sich die Familie, das Wagnis für einen Film einzugehen. Auch das Unfallkrankenhaus stimmte zu. Wir machten ein paar Probeaufnahmen. Natürlich hofften wir alle, dass Elisa während unserer Drehzeit größere Fortschritte machen würde. Irgendwie trat das auch ein, wenngleich anders, als wir es vielleicht zunächst erwarteten.

Alle wünschten, dass Elisa ihre alten Körperfunktionen in einem viel stärkeren Maße wieder nutzen kann. Das geschah aber nicht. Während der eineinhalbjährigen Arbeit am Film mussten wir feststellen, wie schwer es für einen Tetraplegiker, denn das war Elisa nun, ist, auch nur das Wenige zu halten und zu verteidigen, was ihr geblieben ist. Und dass Elisa es schaffte, diese minimalen Funktionen zu bewahren, ja auszubauen, ist eine Leistung, die über alles uns Vorstellbare hinausgeht.

Noch viel mehr Anerkennung verdient es, wenn man sieht, wie Elisa sich aus dem Abgrund der Verzweiflung, dem Trauma der Verletzung, allmählich gelöst hat. Immer wieder gab es - und gibt es - dunkle Phasen. Wie es in Elisa aussieht, das kann vielleicht nur ein Leidensgenosse ermessen. So war es eine besondere Situation, dass auch Samuel Koch mit Elisa Kontakt aufnahm. Die beiden haben sich öfter gesehen. Und ihr Kontakt bleibt bestehen.

Für viele Situationen, die wir gedreht haben, gab es keinen Raum in der Sendung: etwa die Begegnung mit Samuel Koch, der Ball "Sportler des Jahres", die Reise nach Nottwil. Nicht, weil diese Situationen nicht gut waren, sondern weil Elisa uns so viel anderes gegeben hat. So war es etwa ihre Idee, sich an dem Ort, wo ihr Unfall passierte, in der Trainingshalle der Leistungssportler, "aufzustellen". Dabei halfen ihr ihre beiden Schwestern Sandra und Anita, sowie Rico, Sandras damaliger Freund. Ein Höhepunkt für unseren Film. Und es war Elisas Idee allein, nicht nur das lahme Riesenrad auf dem Rummel zu besteigen, sondern den Freefall-Tower. Das war nicht extra für die Kamera inszeniert. Es war einfach Elisas Idee. Sie hätte es auch ohne Kamera gemacht.

Ich bin sehr glücklich, mit Elisa gearbeitet zu haben. Elisa liebt nach wie vor Bewegung, Schnelligkeit, Adrenalin. Vieles hat sich gar nicht so sehr verändert, anderes total. Eine Menge Dinge lässt ihr Körper nicht mehr zu. Trotz aller Schwierigkeiten möchte sie gern so normal wie möglich leben und auch so behandelt werden. Sie wird bestimmt auch in Clubs gehen, und vielleicht wird sie tanzen, auch wenn sie noch nicht weiß, wie das mit ihrem Rollstuhl klappen soll.

Unsere Dreharbeiten haben mir gezeigt, was für ein besonderer Mensch Elisa ist und was für eine Kämpferin in ihr steckt. Ich habe größten Respekt vor ihr. Sie mag die Opferrolle nicht. Am Anfang hat sie mir gesagt: "Ich möchte nicht so gern als Behinderte gezeigt werden!" Wir haben versucht, Seiten ihres Wesen zu ergründen: Elisa ist sehr diszipliniert. Bei manchen Dingen ist sie ungeduldig. Sie ist sehr ruhig. Sie hat einen besonderen Humor. Aber sie ist vor allem eine Kämpferin. Und am Anfang des Films war nicht klar, ob Elisa überhaupt kämpfen würde. Aber sie hat es uns gezeigt!