Wo Armut Alltag ist

Gregor Eppinger über seinen Film

• Zuerst einmal ein schöner Stadtteil

  Als ich das erste Mal nach Lehe kam, war ich irritiert. Es ist kein Ghetto, keine Hochhaussiedlung, kein Klischee-Brennpunkt. Es ist erst mal ein schöner Stadtteil, der den melancholischen Charme ausstrahlt, schon bessere Tage gesehen zu haben. Man hört die Möwen und spürt die Nähe des Meeres. Andererseits ist es auch bedrückend dort, denn man sieht viel Armut. Viele Wohnhäuser stehen leer und verkommen. Manche Straßen wirken verlassen. Geschäfte stehen leer. Es regnet ständig. Wir waren lange und häufig in Lehe; irgendwann gewöhnt man sich an die Stimmung und stellt fest, dass der Stadtteil eigentlich etwas Dörfliches hat. Jeder Person läuft man mehrmals über den Weg, und es stellt sich schnell das vertraute Gefühl ein, hier viele zu kennen. Wenn ich nach längerer Unterbrechung wieder nach Lehe kam, wurde ich gefragt, wo ich solange gewesen war und Leute winkten einem auf der Straße zu. Ich denke, das ist der Grund, warum viele Menschen mir immer wieder erzählten, weshalb sie trotz vieler Probleme sich nicht vorstellen könnten, woanders als in Bremerhaven-Lehe zu leben.

• Die andere Seite des „ärmsten Stadtteils Deutschlands“

  Doch es gibt auch das andere Lehe. Während wir drehten, flog ein paar Zentimeter neben unseren Köpfen eine Glasflasche vorbei. Ein Mann hob sein Hemd hoch und zeigte uns stolz seine Narben, die man ihm bei einer Messerstecherei zugefügt hatte. Als ich mit der Recherche für den Film begann, war Bremerhaven-Lehe ein Jahr zuvor als ärmster Stadtteil Deutschlands bekannt geworden. Auch beim Thema Kinderarmut belegte der Stadtteil den Spitzenplatz. Die mediale Berichterstattung war dementsprechend groß. Insgesamt stieß ich am Anfang auf eine ablehnende Haltung, denn viele fühlten sich durch die Art der Berichte stigmatisiert.

• Nicht aufgeben, sich nicht unterkriegen lassen

  Ich musste immer wieder Überzeugungsarbeit leisten, dass wir einen verantwortungsvollen Film machen wollen, der den Ursachen von Armut nachgeht. Dass wir einen Film machen wollen über Menschen, die sich gerade dadurch auszeichnen, nicht aufzugeben und sich von den Widrigkeiten des Lebens nicht unterkriegen lassen. Ich wusste, dass dieser Film nicht leicht werden würde. Hinzu kommt, dass Armut generell oft mit dem Gefühl sozialer Scham besetzt ist. Wie schwer die Recherche für den Film tatsächlich wurde, hat mich doch überrascht. Rückblickend denke ich, wir konnten den Film nur deshalb machen, weil wir als Filmteam den Luxus hatten, viel Zeit in Lehe zu verbringen. So konnten wir die Menschen häufiger treffen und so eine Vertrauensebene aufbauen. Normalerweise beginnt man mit dem Drehen, wenn man seine Protagonisten gefunden hat. Bei diesem Film war es anders. Ich habe zu drehen angefangen und währenddessen erst die Menschen kennengelernt. Auf diese Weise habe ich unsere so unterschiedlichen Protagonisten gefunden. Es war eine intensive gemeinsame Drehzeit, bei der ich vieles gelernt habe.

• In eigener Sache

  In den Beitrag hatte sich leider ein Fehler eingeschlichen. Im Filmkommentar wurde die Arbeitslosenquote in Bremerhaven-Lehe mit 38 Prozent angegeben. Diese Zahl ist falsch. Laut Pressestelle der Stadt Bremerhaven lag im Dezember 2016 die Arbeitslosigkeit in Bremerhaven-Lehe je nach Postleitzahlbereich zwischen 2,63 Prozent und 29,55 Prozent. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote für den gesamten Stadtteil lag bei 16,05 Prozent. Die falsche Zahl von 38 Prozent, die sich nach wie vor auf den Online-Seiten einiger großer Zeitungen und Magazine findet, wurde mittlerweile aus dem Kommentar entfernt. Auch den Film begleitende Texte sind korrigiert worden. Wir entschuldigen uns für diese Panne und bedauern das Versehen.